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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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Pierre.
    „Richtig! Den hatte ich ganz vergessen …“
    „Jean ist eben noch zu neu, er fällt einem nicht gleich ein. Er gehört ja erst seit vierzehn Tagen zum Stamm.“
    „Übrigens“, sagte Raymond und rückte noch einmal das Gepäck zurecht, „Jean wohnt ja hier in Carolles. Seine Eltern haben für den Sommer die große Villa mit den Säulen am Dorfeingang gemietet. Wir nehmen ihn am besten gleich mit, was meint ihr?“
    In dieser frühen Morgenstunde lagen die Bewohner der Villa noch im Schlaf. Nur Herr Ternet, den die Jungen gut kannten, hatte sich schon im Garten in einem Liegestuhl niedergelassen und las seine Zeitung. Als er von der Gartentür her lachende Rufe vernahm, wandte er sich um.
    „Ihr wollt Jean abholen? Da kommt ihr zu spät. Er ist schon eine gute halbe Stunde weg.“
    Sein Kopf tauchte wieder in der Zeitung unter, während er den Jungen noch einmal freundschaftlich zuwinkte.
    Hinter dem Ort stieg die Uferstraße leicht an. In dem ungleichen Kampf zwischen Moped und ,Nähmaschine‘ war Waffenstillstand geschlossen worden, und die drei Freunde fuhren gemächlich dahin. Zur Rechten dehnte sich die Bucht von Saint-Michel. Sie tat sich breiter und breiter vor ihnen auf wie ein Bühnenbild, wenn der Vorhang auseinandergleitet. Die Jungen kannten die Stelle genau, an der man von der Straße aus hinter der kahlen Felsküste einen feinen Strich sehen konnte: die Turmspitze der weltberühmten Abtei, überragt vom Standbild des Erzengels Michael, der sein Schwert mehr als hundertfünfzig Meter über dem Spiegel des Meeres emporreckt. Ein wenig weiter noch, und der Blick wurde vollkommen frei. Die gesamte Bucht lag zu ihren Füßen.
    Die sinkende Flut hatte den größten Teil des weiten Sandstrandes freigegeben, der täglich zweimal von den anströmenden Wassern des Atlantiks überschwemmt wird. Die Strahlen der aufgehenden Sonne schimmerten durch nebligen Dunst und hüllten die Ferne in ein mattes, blendendes Weiß. Das Auge unterschied auf dem Mont Saint-Michel keine Einzelheiten, nur die Silhouette des märchenhaften Baues leuchtete unter den Wolken auf, und nicht weit von ihm entfernt war das gedrungene und verödete Felsenmassiv des Inselchens Tombelaine zu erkennen. Es ist sozusagen der Zwillingsbruder des Mont Saint-Michel.

    Pierre Faugeras konnte dieses vertraute Bild nie ohne leise Wehmut betrachten. Sein Vater arbeitete als Ingenieur im Auftrag der Regierung an einem Plan, die ganze Bucht durch einen Staudamm abzuriegeln und die bretonische Küste in der Gegend von Saint-Malo mit einem Punkt des normannischen Ufers auf der anderen Seite des Golfes zu verbinden. Der so entstehende Staudamm von etwa vierundzwanzig Kilometer Länge würde zweimal täglich die vielen Millionen Tonnen des zur Flutzeit hochgeschleuderten Wassers aufspeichern. Sie flössen während der Ebbe zurück, und ihre unermeßliche Kraft ließe sich in elektrischen Strom umwandeln. Eine solche Anlage könnte Frankreich mit soviel Strom versorgen, wie jetzt mehrere Kraftwerke zusammen kaum zu liefern vermochten. Zweifellos erforderte dieser Plan sehr viel Geld, aber war der Damm erst einmal errichtet, würde er einen unerschöpflichen Quell des Reichtums darstellen und das Leben des ganzen Landes verwandeln. Bisher war allerdings nur ein Entwurf vorhanden, und niemand wußte, ob die Arbeit je in Angriff genommen werden konnte. Auf langen Spaziergängen noch über den Klippen der Pointe de Carolles hatte Herr Faugeras seiner Frau und seinen Kindern diesen gewaltigen Plan auseinandergesetzt. Er wurde immer ganz melancholisch, wenn er auf die tausend Hindernisse und Schwierigkeiten zu sprechen kam, die sich der Idee entgegenstellten. Aber er gab die Hoffnung nicht auf und war davon überzeugt, daß dieser Traum eines Tages Wirklichkeit werden würde …
    Die Straße führte jetzt durch einen Wald und begann, in gefährlichen Kurven steil zum Meer abzufallen. Raymond verlangsamte seine Fahrt und ließ Pierre einen Vorsprung vor dem Moped. Plötzlich sah er, wie der Freund die rechte Hand hob. Er hörte ihn rufen: „Seht mal, da!“ und merkte, daß Pierre versuchte, die schnelle Abfahrt mit aller Kraft zu stoppen. Um ein Haar wäre er dabei unter die Räder des Mopeds gekommen.
    „Was ist denn mit dir los, zum Donnerwetter!“ fuhr Raymond ihn an. „Bist du verrückt geworden?“
    „Dort hinten muß ein Unglück passiert sein. Ein Radfahrer liegt da. Wir müssen hin.“
    Sie ließen ihre Fahrzeuge stehen und rannten die
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