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Schuldig wer vergisst

Titel: Schuldig wer vergisst
Autoren: Kate Charles Anke und Dr Eberhard Kreutzer
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EINS
    Callie Anson begegnete Morag Hamilton zum ersten Mal bei einer Veranstaltung der Mothers’ Union, die sich die Förderung von Ehe und Familie auf die Fahnen geschrieben hatte, in der All Saints’ Church in Paddington. Als kleine Diakonin hielt sie sich bewusst zurück und saß in der hinteren Reihe, während Jane Stanford, die Frau des Pfarrers, die Vortragende des Abends vorstellte. Callies Gedanken schweiften hierhin und dorthin, verweilten aber keinen Augenblick bei der Frau, die ihnen demonstrieren sollte, wie man aus Joghurtbechern und Schleifen mithilfe von Schere und Leimpistole festliche Weihnachtsdekorationen bastelt. Die Mothers’ Union interessierte sie ohnehin nicht sonderlich, doch sie wusste, dass sie Janes Missfallen genauso provozieren würde, wenn sie nicht käme, wie wenn sie sich bei ihren Veranstaltungen in den Vordergrund drängte. Und so hatte sie längst begriffen, dass sie am wenigsten falsch machen konnte, wenn sie sich im wörtlichen Sinne ins zweite Glied zurückzog.
    Als der richtige Gebrauch der Leimpistole erklärt wurde, schweifte Callies Aufmerksamkeit noch weiter ab, nämlich hin zu der Frau, die ihr bei den Hinterbänklern am nächsten saß. Trotz ihrer eher unauffälligen Erscheinung und zurückhaltenden Art hätte sie sich doch an die Frau erinnert, falls sie sich schon einmal begegnet wären: Sie war im mittleren
bis fortgeschrittenen Alter, klein, gedrungen, adrett, mit kräftigen Händen, die sie über der schwarzen Handtasche und dem Schottenrock gefaltet hielt. Ihr graues Haar war kurz und ordentlich, wenn auch nicht modisch geschnitten, und ihre Augen verbargen sich hinter einer Brille mit altmodisch großem Gestell. Was für Callie inmitten der gepflegten Londoner Damengesellschaft aus dem Rahmen fiel, war der Teint dieser Frau, ihre von geplatzten Äderchen geröteten Wangen, die den Eindruck machten, als hätte sie einen großen Teil ihres Lebens in weniger vornehmer Gesellschaft, unter freiem Himmel und in einem raueren Klima als dem milden Nieselregenwetter von Paddington, Bayswater und Hyde Park verbracht.
    Sobald der Vortrag zu Ende und der Applaus verebbt war, ergriff Callie die erstbeste Gelegenheit, sie anzusprechen. Alles strebte, wenn auch diskret, zur Teemaschine, doch die Frau zögerte einen Moment, und Callie drehte sich zu ihr um.
    »Hallo«, sagte sie und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin die Kuratin, Callie Anson.«
    Die Frau hatte einen festen Händedruck. »Morag Hamilton«, sagte sie, und ihre kehlige Aussprache verriet ebenso wie ihr unenglischer Name, woher sie stammte. »Ich bin neu hier.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Morag. Es ist schön, Sie bei uns zu haben. Wohnen Sie in der Pfarrgemeinde?«
    »Ja, das tue ich. Sogar direkt um die Ecke.« Morag verriet mit einer Neigung ihres Kopfes, um welche Richtung es sich handelte.
    »Ach, dann sind wir ja Nachbarn«, sagte Callie und hob den Blick zur Decke. »Ich habe die Wohnung da oben.«
    »Über dem Laden sozusagen.« Morag lächelte. »Das kenne ich. Mein Mann war Landarzt, und wir wohnten über der Praxis.«

    »In Schottland?«, wagte Callie sich vor.
    »Richtig, in den Highlands«, ergänzte Morag. »Gartenbridge. Nicht weit von Aviemore. Kennen Sie die Gegend?«
    Callie schüttelte den Kopf. »Nein, ich war nur ein-, zweimal in Edinburgh, aber weiter nach Schottland rein bin ich nie gekommen.«
    Morag lachte kurz auf. »Edinburgh liegt so weit im Süden, dass es kaum noch zu Schottland zählt!«
    »Die Highlands sollen sehr schön sein.«
    »Sie sind das Paradies auf Erden.« Morag blickte über Callies Schulter hinweg in die Ferne, und ihr Gesicht bekam einen beinahe verklärten Ausdruck. »Sie sollten wirklich mal hinfahren. Nach einer Woche dort wollen Sie nie wieder weg.«
    Callie packte die Neugier. Wenn die Highlands so vollkommen waren, dann fragte sich, was Morag Hamilton in London zu suchen hatte. War ihr Mann in Rente gegangen und hatte plötzlich ein Faible für die Großstadt entwickelt? Sie überlegte gerade, wie sie die Frage diplomatisch formulieren sollte, als ihr Jane Stanford zuvorkam, die mit besitzergreifender Geste die Rednerin zu den Getränken manövrierte. »Callie, ich glaube, Mrs Barton könnte ein bisschen Hilfe am Teeausschank brauchen«, sagte sie in spitzem Ton und zog dabei missbilligend die Stirn in Falten, als wollte sie ihr sagen, sie hätte eigentlich auch selbst darauf kommen können. »Ich würde
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