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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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zwischen der Bretagne und der Normandie. Bei hoher Flut verlieren sich seine Wasser zwei Kilometer vom Mont Saint-Michel im Ärmelkanal, weshalb Normannen wie Bretonen behaupten können, der ,Mont‘ gehöre zu ihnen. Bei Ebbe jedoch verfolgt der Fluß seinen Lauf mitten durch den Sand und schließt dabei den ,Mont‘ von Westen her ab, zum Triumph der Normannen!
    Suzanne war mit ihrem Rad ein wenig zurückgeblieben und versuchte, sich die sagenhaften Eichen von Quokelunde hier am Strand vorzustellen. Einen hübschen Namen hatte dieser Wald, einen Namen, bei dem sich träumen ließ … Suzanne sah dort, wo der Wald am dichtesten war, eine geheimnisvolle Burg liegen, in der sie hauste. Die Herrin von Quokelunde …
    Zu beiden Seiten des Dammes gab es jetzt freilich nur ein bißchen saftiges Gras. Schafe weideten es geduldig ab. Bei Hochflut steht diese merkwürdige Wiese unter Wasser, und daher bekommt das Fleisch der Schafe, die hier ihr Futter suchen, einen leichten Salzgeschmack, den manche Liebhaber von Hammelkeule schätzen.
    Am Ende des Dammes stießen die Meerkatzen auf ein wildes Durcheinander von Wagen und Omnibussen. Wenn die Flut weniger stark ist, kommt sie nicht bis zum Fuß des Mont Saint-Michel heran, und die Wagen können am Strande parken. Aber jetzt war ja die Zeit der Hochfluten. Die Jungen mußten lange verhandeln, bis sie auf dem Damm einen Platz erhielten, wo sie ihr Moped und die beiden Räder unter der Obhut eines Parkwächters abstellen konnten. Nach einigem Schwanken packte Raymond sich den Tornister auf den Rücken. Er enthielt außer dem Proviant zu viele wertvolle Dinge. Jean folgte seinem Beispiel und nahm seine Sachen ebenfalls mit.
    Inmitten der schwatzenden Menge der Touristen durchschritten sie den doppelten Verteidigungsgürtel, der seit dem Mittelalter den befestigten Teil der Insel umzieht, und gelangten zum Fuß der ,Großen Straße‘. Niemand kann ihr diesen Namen absprechen, denn sie ist die einzige richtige Straße des ganzen Städtchens. Ihr Pflaster tut den Füßen weh. Aber um dem beständig auf- und abflutenden Menschenstrom gewachsen zu sein, der das ganze Jahr nicht versiegt, mußten schon harte Granitsteine genommen werden. An beiden Seiten lagen Cafés, Restaurants und kleine Läden. Geduldige Händler warteten nicht umsonst auf Kunden, die sich von den bunt zusammengewürfelten Gegenständen anlocken ließen, die in allen Ländern ,Andenken‘ heißen.
    Die fünf Vertreter der Meerkatzen, Suzanne an der Spitze und Raymond am Schluß, drängten sich höchst vergnügt durch die Menge der Touristen und sprangen wie die Ziegen über die flachen Steinstufen, die immer zahlreicher werden, je höher die ,Große Straße‘ emporführt. Plötzlich wurde ihnen klar, daß sie sich für ihre Expedition noch gar kein richtiges Programm gemacht hatten. Vom Fuße des gewaltigen Mauerwerkes aus erklommen die zahlreichen Besucher die steinerne Treppe, die zum Eingang der Abtei führt. Sie entschlossen sich, dem Strom zu folgen. Es machte Spaß, sich zu benehmen, als wären sie gewöhnliche Touristen. Die meisten Leute um sie her sahen den Mont Saint-Michel zum ersten Mal und stellten die erstaunlichsten Betrachtungen an.

    „Hoffentlich gibt es im Innern einen Aufzug!“ sagte eine dicke Dame und maß angstvoll die schwindelerregende Höhe des Bauwerkes. Sie zog zwei Kinder von drei oder vier Jahren hinter sich her, die sich an ihren Rock klammerten und weinten. Suzanne und Raymond nahmen die Kleinen an die Hand, trösteten sie und halfen ihnen die steile Treppe hinter dem Eingangsportal hinauf. So gelangte man endlich in den Wächtersaal, wo die Eintrittskarten zur Führung durch die Abtei gelöst werden müssen.
    „Fünfmal!“ verlangte Raymond.
    Er hatte die kleinen rosa Abschnitte kaum in Empfang genommen, als die Meerkatzen ihn auch schon protestierend umringten. Pierre machte sich zum Wortführer.
    „Du verlangst doch nicht etwa, daß wir mit der ganzen Herde herumlaufen? ,Meine Damen und Herren, bitte folgen Sie dem Führer …‘ “
    „Eine Stunde lang wird man durch Säle und über Treppen geschleift, und nirgends hat man Zeit, sich etwas richtig anzusehen!“
    „Zweimal habe ich das schon mitmachen müssen“, stöhnte Suzanne. „Einmal mit den Eltern und einmal mit meinem Onkel und meiner Tante. Nirgendwo darf man stehenbleiben, und wenn einen etwas noch so sehr interessiert. ,Weiter, meine Herrschaften, bitte weitergehen!‘ Und vor einem alten Stein, der
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