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003 - Der Totentanz

003 - Der Totentanz

Titel: 003 - Der Totentanz
Autoren: Alphonse Brutsche
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Pierre Merlin war auf dem Weg zum Friedhof. Er hatte den Kragen seines Regenmantels hochgestellt und den Hut tief in die Stirn gezogen.
    Es war ein kühler, regnerischer Abend. Merlin hüstelte. Der Hals tat ihm weh. Das kam von der feuchten Herbstluft. Die üblen Großstadtdünste trugen das ihre dazu bei.
    Es war 18 Uhr 15.
    Um Pierre Merlin herum strebten unzählige andere Pierre Merlins ihren Zielen zu. Die große Stadt brummte mit all ihren Automotoren, kreischte mit der Unzahl ihrer menschlichen Stimmen. Es war ein unerträglicher Lärm, der den Nerven zusetzte.
    18 Uhr 15. Das war kaum die übliche Zeit für einen Friedhofsbesuch, aber Pierre Merlin hatte der Versuchung nicht widerstehen können. Als er kurz zuvor in seinem Büro am Zeichentisch saß, hatte er Christines Stimme gehört. Niemand außer ihm hatte sie vernommen. Bis es endlich sechs Uhr geworden war, hatte Pierre Merlin nur ein Gedanke bewegt: Er wollte Christine, seine verstorbene Frau, besuchen, wollte mit ihr am anderen Ende der Stadt, auf dem Friedhof, noch ein paar Worte wechseln.
    Um Punkt sechs Uhr hatte er sich aufgerichtet, hatte Zeichenstift und Lineal beiseite gelegt und war zum Kleiderhaken geeilt, an dem sein Mantel hing. Er hatte sich den Hut auf das schon stark gelichtete Haar gedrückt und in seiner Hast sogar vergessen, sich von seinen Kollegen zu verabschieden.
    Diese Unhöflichkeit hatte seine Mitarbeiter nicht gekränkt. Im Stadtbauamt war man mit Merlins sonderbarem Benehmen schon vertraut. Man empfand Mitleid mit ihm.
    »Seit dem Tod seiner Frau hat sich der arme Merlin wirklich sehr verändert«, stellte man allgemein fest.
    »Ja, er ist nicht mehr wieder zu erkennen. Früher war er doch immer so vergnügt.«
    Solche und ähnliche Bemerkungen machten die Kollegen, wenn er um Punkt sechs seinen Mantel ergriff und davon stürzte. Seine Mitarbeiter Brigitte Dubois, Paul Canauff, Hervé Dutour und auch alle anderen mochten Pierre Merlin sehr gern. Deshalb störte es sie nicht, wenn er jetzt oft in sich gekehrt und wortkarg
    war. Der Verlust eines geliebten Angehörigen verändert einen Menschen natürlich.
    Dieser Abend verlief so wie schon viele davor. Pierre war rasch die Treppe hinuntergegangen, da er zu ungeduldig gewesen war, um auf den Fahrstuhl zu warten. Dann hatte er den langen Weg angetreten, der ihn zu Christine führen sollte, zu seiner Erinnerung an sie, zu ihrem Schatten …
    Der Novemberabend war kalt und dunkel. Um diese Zeit ging man normalerweise nicht auf den Friedhof. Aber warum sollte man nicht auch am Abend hingehen, wenn dort in der nassen, kalten Erde der einzige Mensch lag, nach dem man sich sehnte und mit dem zu sprechen man sich so sehr wünschte.
    Merlin ging jetzt eine breite Straße entlang, an der alte Bäume standen. Er hatte das Stadtzentrum schon hinter sich gelassen. Doch auch hier war er noch vom Verkehrslärm umbrandet. Kalt wehte ihm der Wind ins Gesicht, und er fröstelte. Manchmal bildete er sich ein, Christines Stimme zu hören. Aber er wusste: Die Toten können nicht mehr sprechen, und sie können auch nicht zu uns zurückkommen. Nur die Lebenden gehen zu den Toten. So suchte Merlin immer wieder die Geliebte auf, stand an der Familiengruft und war mit seinen Gedanken bei ihr, deren Körper zu seinen Füßen in der kalten Erde zerfiel. Insgeheim wartete er auf einen Laut, auf ein Wort von seiner toten Frau. Aber er wusste, dass nur seine eigene Stimme die Stille brach, wenn er die liebevollen und törichten Worte flüsterte.
    Pierre Merlin war untröstlich. Auch seine Kollegen wussten, dass es so war. Wirkliche Freunde hatte er nicht und auch keine Verwandten. Niemand tröstete ihn. Er fand sich damit ab und beschloss, sein ganzes zukünftiges Leben der Trauer um Christine zu weihen.
    Jetzt hatte er die Kirche St. Paul erreicht. Die Kirchturmuhr zeigte sechs Uhr fünfundzwanzig. Pierre wusste, dass er genau eine halbe Stunde brauchte, um von seinem Büro zum Friedhof zu gelangen.
    Zwar war es ungewöhnlich und seltsam, wenn sich jemand abends bei Dunkelheit noch auf einen Friedhof begab. Seine Kollegen hatten oft genug Bemerkungen darüber gemacht, wie etwa: »Wollen Sie schon wieder auf den Friedhof, Pierre? Meinen Sie nicht, Sie sollten lieber nach Hause gehen? Es ist schon spät, und dann noch der weite Weg …«
    Doch Merlin hatte nur die Achseln gezuckt und den Mund zu einem schwachen Lächeln verzogen. Er hatte nichts erwidert, und seine Mitarbeiter hatten taktvoll geschwiegen.
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