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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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bezahlen musste! Schließlich war ihr Vater nicht mehr da, um sie zurechtzuweisen. Und was ihre Mutter anging: Sie war nicht ihr Partner, also war sie auch nicht eingeladen! Alles, was recht war, aber sie würde ihr nicht mehr im Weg stehen!
    Lydia wusste, was sie zu tun hatte. Sie würde Daphne in der Bücherei besuchen und um Rat fragen. Daphne wusste immer und unter allen Umständen, was zu tun war. Lydia stand auf. Es musste etwas geschehen. Sie sah auf der Uhr, dass sie noch fast eine Stunde hatte, ergriff ihre Handtasche und verließ das Haus.

5
    Tailorstown, ein kleines Dorf in der Grafschaft Derry, hatte anfangs aus dem Lebensmittelhändler Flynn, dem Barbesitzer O’Shea, dem Bestatter Duffy, ein paar verstreuten Häusern und der unabdingbaren Gemeindekirche bestanden. Über die Jahrzehnte war es durch die unvermeidlichen Anstrengungen der erwähnten Getreuen und einen steten Zustrom von Händlern und Spekulanten angewachsen. Die Damen aus der Hemdenfabrik lernten die Maurer aus den Sozialsiedlungen kennen und bald füllten sich die Schulen und Kirchenbänke mit den Folgeerscheinungen ihrer Leidenschaften. Tailorstown wurde zu einer aufstrebenden Kleinstadt.
    Für Außenstehende war Tailorstown nicht mehr als ein Kaff, das nirgendwohin führte, überragt von den Gipfeln der Slievegerrin-Berge, die weder bei Touristen noch bei Abenteurern hoch im Kurs standen. Wie die meisten kleinen Ortschaften war Tailorstown nichts Besonderes und nur für die Einwohner und die örtliche Geschichtsgesellschaft von Bedeutung. Und die war aus Frustration von einem pensionierten Schuldirektor gegründet worden, der nach all den vielen Jahren, in denen er den Schülern den Verstand aus dem Kopf gehämmert hatte, nun eine Beschäftigung brauchte, die seine Bitterkeit in Schach hielt.
    Jamie McCloone machte sein Rad vom Geländer der Arztpraxis los und schob es mit glitzernden Speichen und wie Grillen zirpenden Rädern die Hauptstraße hinunter. Auf der Straße war an diesem sonnigen Morgen kaum jemand zu sehen. Die Mütter arbeiteten in denKüchen, die Väter in den Geschäften oder auf den Feldern und die Kinder tobten in den Gärten und Höfen herum und freuten sich über die ersten Ferientage.
    Jamie war friedlich gestimmt und zufrieden, dass er in der Nachbarschaft dieses ruhigen Ortes wohnte. In Momenten wie diesen fühlte er sich wie ein Zweig in einem Fluss. Vielleicht war er abgebrochen und unbedeutend, vielleicht wurde er manchmal über Stromschnellen geschleudert, doch kam er immer wieder frei, um sich von der großen Kraft forttragen zu lassen, von der er ein Teil war. Tailorstown war seine Heimat.
    Die Ereignisse des Morgens hatten ihn aufgeheitert – die Entdeckung der »Einsame Herzen«-Rubrik, die gute Nachricht des Arztes und die Aussicht auf ein paar Tage an der See. Das wollte er in einer Kneipe begießen. Aber in welcher? Sie lagen alle nur einen Steinwurf entfernt. Er musste scharf nachdenken, denn er hatte bei allen anschreiben lassen, bei Hickie, Doolan und bei O’Shea. Aber er kam nicht darauf, in welchem Pub er am höchsten in der Kreide stand, wo man ihn also am wenigsten gern sehen würde. Mit gerunzelten Brauen dachte er ein paar Minuten darüber nach, bevor er sich schließlich für O’Shea entschied, weil es am nächsten lag und er ein paar Shilling dabeihatte, außerdem war Slope gar nicht so übel und ...
    »Slope« O’Shea – Barbesitzer, Hausmeister, Putzmann und schon seit vielen Jahren Peggys leidender Ehemann – hatte einen Hang, unangenehm aufzufallen, und wenn er getrunken hatte, machte er oft unüberlegte Bemerkungen über seine Artgenossen. Er war gerade dabei, die Kneipe zu öffnen, denn es war eine lange Nacht gewesen und er hatte verschlafen. Jamies Anblick war ihm nicht besonders willkommen. In seinem Kopf hämmerte es und sein Magen zog sich jedes Mal zusammen, wenn er einen Barhocker anhob oder einen Stuhl an einen Tisch zurückstellte.
    »Morgen, Slope«, rief Jamie. »Schön heute, nicht?«
    Er hievte sich auf einen der Barhocker am Tresen, klemmte die Füße unter die Schiene und stützte sich mit den Ellenbogen auf den blau geäderten Resopaltresen.
    »Ja, Jamie, sieht nach ’nem guten Tag aus«, seufzte Slope.
    Seiner Berufung getreu hatte Slope über die Jahre hinweg die Kunst verfeinert, geistlose Unterhaltungen endlos in die Länge zu ziehen. Im Moment war er jedoch nicht gesprächig. Nur widerwillig ließ er das Umräumen und öffnete die halbhohe Tür hinter dem
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