Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
Vom Netzwerk:
Dienerin geworden, die treu die Aufgaben einer Krankenschwester und Köchin, eines Zimmermädchens und Gärtnerin, einer Aufwartefrau und Verwalterin erledigte – und noch dazu all die anderen Pflichten, die ihre anspruchsvollen Eltern ihr auftrugen. Was für ein Geschenk sie doch war! Die formbare, pflichtbewusste Tochter eines selbstgerechten, autoritären Paares.
    Sie fuhr in die Einfahrt von Elmwood House und schaltete den Motor aus. Eine Zeitlang saß sie nur da, massierte sich die schmerzenden Schläfen und starrte auf das respektable, efeuberankte Pfarrhaus, in dem sie groß geworden war. Es barg all ihre Erinnerungen – aus der Kindheit, der Jugend und der Zeit als erwachsene Frau. Sie dachte an das Kind, das sie einmal gewesen war und wie sie Schritt für Schritt reifer wurde. Wie naiv hatte sie damals auf die große, noch unbekannte Zukunft geblickt, die ihre Eltern bereits genauestens für sie geplant hatten. Was für eine Chance hatte sie denn schon gegen deren Autorität und gesunden Menschenverstand gehabt? Die beiden waren übereingekommen, dass Lehrerin ein ehrbarer Beruf war, und Lydia hatte sich willig gefügt. Was hätte sie denn sonst machen sollen? Eigentlich wollte sie Kosmetikerin oder sogar Friseurin werden, aber sie hätte sich nicht getraut, diesem Wunsch Ausdruck zu verleihen. Ihr Vater hätte ihn als seiner Tochter nicht würdig, als eitel und leichtsinnig abgetan.
    Ja, ihr Vater: ihr hartnäckiger, starrsinniger Vater. Sie wollte sich lieber nicht eingestehen, wie viele Jahre sie nach seinen hohen Ansprüchen gelebt hatte. Er hatte die enge kleine Kiste gebaut, in der sie ihr Leben verbrachte, seine Ansichten und Grundsätze hatten dort alle einen festenPlatz und er hatte den Deckel mit seiner selbstgerechten Argumentation zugenagelt. Ihr ganzes Leben hatte sie sich eingeengt gefühlt. Jetzt, wo er fort war, wollte sie sich strecken und recken, die Wände einreißen und ausbrechen.
    Sie blickte starr auf das Haus, das Gefängnis, die Kiste, in der sie groß geworden war, und fragte sich, wann aus dem Kind eigentlich eine Erwachsene geworden war. Denn für Lydia hatte es keinen besonderen Moment gegeben, keine Linie, die sie überschritten, kein Flatterband, das sie durchschnitten hatte. Ihr schien, als habe sie immer unter einem disziplinarischen Hagel von »Nein« und »Niemals« gelebt, und oft fühlte sie sich wie eine Minderjährige ohne Welterfahrung.
    Sie war vierzig und hatte nie mit jemandem geschlafen, nie Alkohol getrunken, war noch nie geflogen oder in einem schnellen Auto gefahren. Wie hatte ihre Erziehung wohl ihre Vorlieben und Abneigungen geprägt, fragte sie sich. Sie hatte nicht das Bedürfnis, im Meer zu schwimmen, sich am Strand oder Pool zu sonnen; sie mochte keine ärmellosen kurzen Kleider, die die Knie freiließen. Sie fürchtete sich vor Hunden, seit der Drahthaarterrier des Nachbarn über den Zaun gesprungen war und sie gebissen hatte. Da war sie ein Kleinkind gewesen; doch die Narbe am linken Knöchel zeugte noch davon. Sie ließ sich nicht gerne in der grellen Sonne fotografieren und ging nie ohne Sonnenbrille, Regenschirm und sauberes Taschentuch im Ärmel vor die Tür. Sie hatte nie zu Livemusik getanzt. Aber sie hatte sich in ihrem Schlafzimmer zu Andy Williams gedreht. Bei gedämpfter Lautstärke, damit ihr Vater sie nicht hörte. Denn der hielt Popmusik für den »Kehrreim des Teufels«.
    Sie mochte kein gekauftes Brot, keine Maiskolben, keine Tomaten mit Käse – von all dem wurde ihr übel. Sie aß nie etwas zwischen den Mahlzeiten oder im Stehen, so konnte sie ihre jugendliche Figur halten. Sie hasste Menschenansammlungen und ging frühmorgens einkaufen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie war überpünktlich, kam nie zu spät zu einer Verabredung und konnte es nicht ausstehen, wenn jemand sie warten ließ. Sie glaubte an die lenkende Hand Gottes, ging jeden Sonntagzum Gottesdienst, kannte fast alle Kirchenlieder und konnte alle siebenundzwanzig Kapitel des Levitikus auswendig aufsagen.
    Kurz, sie war die Tochter ihres Vaters, und er hatte erst sterben müssen, bevor ihr bewusst wurde, dass sie ein Widerspruch in sich war. Vielleicht konnte sie nun endlich zu dem Menschen werden, von dem sie träumte. Sie öffnete die Autotür mit neuer Entschlossenheit. Zeit, sich zu ändern, dachte sie und schlug die Tür zu. Die Raben auf der Ulme im Vorgarten schimpften laut.
    In der Küche machte sie sich ihr eigenes Frühstück, das sie aus Rücksicht auf ihre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher