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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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Befürchtungen einfach nicht erklären.
    »Was für einer was?«
    »Zeitung, Paddy.«
    »Ach, um die Zeitung geht’s. Ich glaube, sie hat vom Mid-Ulster ... dem Mid-Ulster Vindi-irgendwas gesprochen ...«
    »Vindicator?«
    »Genau, das isses: Der Mid-Ulster Vindicator. Kriegste am Donnerstag unten bei Minnie Sproule.«
    Die Asche an Jamies Zigarette war kurz davor hinunterzufallen. Der Rauch stieg zur Decke auf, die sich nur noch etwas gelber färbte.
    »Ich verstehe«, sagte er und ließ die Asche auf den Boden fallen. »Weißt du, ich kann’s mir ja mal angucken.«
    Der Rauch der Zigaretten hatte sich mit den Kochdünsten, die über dem offenen Feuer aufstiegen, gemischt. Im Zimmer war es so schummrig wie bei einer Séance, sodass Paddy Jamies Gesichtsausdruck nur mit Mühe erkennen konnte. Aber er spürte, dass der dem Ganzen nicht unbedingt ablehnend gegenüberstand.
    »Was solls, is doch nichts dabei, dir mal eine anzusehen, Jamie.« Paddy war erleichtert, dass die heikle Nachricht endlich draußen war, und er freute sich, dass Jamie die Idee zu gefallen schien. Jetzt konnte er es kaum erwarten, Rose davon zu erzählen. »Nee, is absolut nich verkehrt, sich mal eine anzusehen. Und Rose sagt ... Rose sagt ... du bist ein gut aussehender Bursche und sie sagt ... es wär ’ne Schande, wenn du dein ganzes Leben nur ... nur ... nur ...«
    »Nur ins Feuer starrst?«, fragte Jamie und starrte ins Feuer.
    »Genau, ins Feuer.«
    Noch so eine endlose Pause. Shep merkte, dass die Unterhaltung beendet war, stand mühsam auf und lief zur Tür.
    »Da hat se recht«, sagte Jamie gedankenverloren hinter seiner Mauer aus langjähriger, qualvoller Verdrängung. Der Mauer, aus der Paddy gerade den ersten Stein herausgezogen hatte. Durch diesen Spalt konnte Rose nach ihm greifen und ihm beim Aufbau einer schönen, bis jetzt noch unvorstellbaren Zukunft helfen.

4
    »Mr McCloone, bitte kommen Sie mit.«
    Jamie war in die Seiten des Mid-Ulster Vindicators versunken und hörte die Aufforderung nicht. Er lutschte ein Zimtbonbon und las erstaunt die »Einsame Herzen«-Rubrik durch. So viele gesichtslose Frauen buhlten um seine Aufmerksamkeit, so viele Frauen wollten zu jemandem gehören. So etwas hatte er noch nie gesehen.
    »Mr McCloone!«
    Jamie zuckte zusammen. Er stellte sich so ungeschickt beim Zusammenlegen der Zeitung an, dass ihm einzelne Blätter herunterfielen. Nervös und mit rotem Gesicht ging er in die Hocke, um sie wieder aufzuheben, und nun kam Miss Mulligan, die Sprechstundenhilfe, auch noch auf ihn zu. Kaum hatte er die letzten Seiten aufgehoben, da sah er schon ihre schwarz lackierten Fußnägel und dicken Knöchel. Er schielte hoch. Sie sah ihn über ihre halbmondförmige Lesebrille direkt an.
    »Bitte kommen Sie jetzt, Doktor Brewster wartet.« Sie betonte jedes Wort und beugte sich zu ihm herab wie zu einem Kind, einem älteren Mitbürger oder, ja tatsächlich, wie zu einem Idioten.
    »Is ja gut, Miss Mulligan, is ja gut!«
    Er rollte die Zeitung zusammen und stopfte sie in die Tasche seines Jacketts, bevor er ihr ins Arztzimmer folgte.
    Dr. Humphrey Brewster, ein großer Mann mit bläulichem Kinn und den Augen eines Cocker Spaniels, sah nicht auf, als die Tür geöffnetwurde, sondern kritzelte weiter irgendetwas in sein Notizbuch. Jamie setzte sich in den leeren Stuhl, legte die Hände auf die Knie und sah sich den kahlen Kopf des Arztes an.
    Er fühlte sich, als säße er vor dem Trenngitter des Beichtstuhls und wiederholte die ewiggleiche Litanei seiner Sünden. Er hatte auch jetzt wieder so ein dunkles Gefühl der Vorahnung, das ihn oft fast dazu brachte, aus dem Beichtstuhl zu fliehen. Vater Brannigan langweilte sich jedenfalls schrecklich, wenn er sich das immergleiche öde Geschwafel anhören musste, und wollte nur nach Hause – zu seinen Hausschuhen, zu den Kartoffelpfannkuchen und dem in Guinness geschmorten Rindfleisch, sodass er dem Büßersermon auf der anderen Seite bald Einhalt gebot.
    Jamie starrte die vielen verschiedenen krebsähnlichen Warzen und Gewüchse unter dem spärlichen Haar des Arztes an und wartete darauf, dass das »Gitter« zur Seite geschoben wurde und der Arzt ihm in die Augen sah.
    Schon allzu bald kam der gefürchtete Moment. Der kratzende Füller wurde verschlossen, die Brille abgesetzt. Dr. Brewster lehnte sich in seinem Lederstuhl zurück und verschränkte die Finger über seinem dicken Bauch.
    »Also, James, was kann ich heute Morgen für Sie tun?«
    »Ach, wissen Sie,
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