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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Julie Garwood
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PROLOG
    Das Mädchen konnte perfekt mit dem Messer umgehen. Die Kleine war ein echtes Naturtalent, Gott der Allmächtige hatte ihr diese Gabe gegeben. Zumindest behauptete das ihr Vater Big Daddy Jake Renard, als sie im zarten Alter von fünfeinhalb ihre erste Forelle mit der Präzision und dem Geschick eines Profis ausnahm. Ihr Vater war sehr stolz, hob sie hoch, setzte sie sich auf die Schultern – die mageren kleinen Knie drückten sich rechts und links an sein Gesicht – und trug sie hinunter zu seiner Lieblingskneipe, dem Schwan. Er setzte die Kleine auf die Theke, und seine Freunde scharten sich neugierig um die beiden. Sie wollten zusehen, wie das Kind einen weiteren Fisch ausnahm, den Jake in der Gesäßtasche seines abgetragenen Overalls mitgebracht hatte. Milo Mullen war dermaßen beeindruckt, dass er anbot, die Kleine für fünfzig Dollar bar auf die Hand zu kaufen. Er behauptete großspurig, er würde mit ihr innerhalb einer Woche das Dreifache verdienen, wenn er sie an die Fischer vermietete, die in den Hütten am Bayou lebten.
    Big Daddy Jake wusste, dass Milo ihm auf diese Weise schmeicheln wollte, und nahm ihm das Gerede nicht übel. Zumal Milo ihm ein Bier spendierte und einen netten Trinkspruch auf seine talentierte Tochter ausbrachte.
    Jake hatte drei Kinder. Remy, das älteste, und John Paul, das ein Jahr jüngere, waren noch nicht einmal Teenager, aber Jake erkannte schon jetzt, dass sie eines Tages größer sein würden als er. Die Jungs waren Rabauken. Beide waren schlau und gerissen, und ständig führten sie irgendetwas im Schilde. Jake war stolz auf seine Jungs, aber die kleine Michelle war sein Augenstern. Bei ihrer Geburt war ihre Mutter um ein Haar gestorben. Aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Michelle dafür verantwortlich zu machen. Seine wunderbare Ellie hatte bei der letzten Presswehe einen Schlaganfall erlitten, und nachdem ihre Tochter von der Hebamme rasch gewaschen und in saubere Decken gewickelt worden war, wurde Ellie sofort auf eine Trage gehoben und ins Krankenhaus nach St. Claire gebracht. Eine Woche später, als die Ärzte feststellten, dass sie nie mehr aufwachen würde, transportierte man sie mit einem Krankenwagen in eine staatliche Einrichtung. Ellies behandelnder Arzt nannte dieses schreckliche Haus Pflegeheim, aber Big Daddy brauchte nur einen Blick auf das strenge graue Steingebäude und den zweieinhalb Meter hohen Eisenzaun zu werfen, um zu wissen, dass der Arzt log. Das war kein Heim, es war die Vorstufe zur Hölle, ein Bereich auf Erden, in dem arme verlorene Seelen Buße taten, bis Gott beschloss, sie zu sich in den Himmel zu holen.
    Als Jake seine Frau zum ersten Mal besuchte, brach er in Tränen aus, aber danach weinte er nie mehr. Das änderte schließlich nichts an Ellies Zustand, und das machte auch das grässliche Haus, in dem sie nun lag, nicht weniger finster.
    Auf beiden Seiten des langen Korridors reihte sich Tür an Tür, durch die man in die Krankenzimmer mit hellgrünen Wänden, grauem Linoleumboden und wackeligen alten Betten gelangte, die jedes Mal quietschten, wenn man die Seitengitter hoch- oder hinunterschob. Ellie war in einem großen, quadratischen Raum untergebracht, zusammen mit elf anderen Patienten, von denen nur wenige wach waren. Die meisten von ihnen lagen im Koma. Der Raum war so klein, dass Jake nicht einmal einen Stuhl neben Ellies Bett stellen konnte, um sich ein Weilchen zu ihr zu setzen und mit ihr zu sprechen.
    Jake hätte sich noch schlechter gefühlt, wenn seiner Frau bewusst gewesen wäre, wo sie sich befand, aber ihr Gehirn hielt sie in tiefem Schlaf gefangen. Was sie nicht wusste, konnte sie nicht aufregen, entschied er, und dieser Gedanke gab ihm seinen Seelenfrieden zurück.
    Jeden Sonntagnachmittag, sobald er sein Mittagsschläfchen beendet und seine lähmende Traurigkeit abgeschüttelt hatte, besuchte er Ellie zusammen mit Michelle. Sie standen dann Hand in Hand am Fußende von Ellies Bett und schauten sie meist zehn bis fünfzehn Minuten lang an. Danach gingen sie wieder. Manchmal pflückte Michelle ein paar Blumen, band sie mit einem Bindfaden zu einem Strauß zusammen und machte eine hübsche Schleife darum. Diese Sträußchen legte sie auf das Kopfkissen ihrer Mutter, damit sie den süßen Duft riechen konnte. Ein paar Mal flocht sie einen Kranz aus Gänseblümchen und legte ihn Ellie auf den Kopf. Ihr Daddy sagte stets, dass ihre Mutter mit dieser Krone so schön aussah wie eine Prinzessin.
    Jake Renards
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