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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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und in die schimmernden Halbschuhe schlüpfte, wie er das Akkordeon aufhob und sich aufrichtete, um sich im Spiegel zu bewundern. Nein, der Himmel ist nicht dort oben, sagte er sich. Er ist jetzt und hier. Ich bin ein Teil davon. Ich lebe schon im Himmel. Er gehört mir. Shep stand jetzt auf dem Bett und bellte laut. Er spürte die Veränderung in seinem Herrn – und hieß sie in seinem Hundeherzen willkommen.
    Jamie trat stolz aus dem Haus in die Sonne. Er lächelte breit. Der Hund spielte verrückt und Paddy sah ihn erstaunt an – da wusste Jamie endlich, was Glück war. Die beste Art von Glück, das, was man nach Jahren des Kämpfens findet und endlich annehmen kann.
    Aus dem zehnjährigen Jungen aus dem Waisenhaus war ein glücklicher Mann geworden, der sich zugehörig fühlte. Er war über eine Schlucht von Emotionen gesprungen und hatte atemberaubende Höhen erklommen.
    Er saß auf dem Beifahrersitz mit dem Kopf des Hundes auf der Schulter. Das Akkordeon hielt er auf dem Schoß. Als der Minor anfuhr, bemerkte Jamie das kaum, und als Paddy den falschen Gang einlegte und der Minor einen Satz den Hügel hinab machte, spürte Jamie das Rucken überhaupt nicht. Er träumte, er sah nur die Schönheit der Welt durch die verschmierte Windschutzscheibe, hörte nur den Klang seines Akkordeons draußen über den Feldern aufsteigen.
    »Gott, Jamie, ich hab vergessen, dir was zu sagen«, meinte Paddy, der in seinem rasenden Tempo nur knapp eine Milchkanne verfehlt hatte. »Neulich war ich auf der Poststelle und Doris Crink hat mir gesagt ... na ja, sie hat gesagt, dass ... dass ich dir sagen soll ... dass sie es gerne sehen würde ... wenn du am Sonntag zu ihr zum Tee kommst!«
    »Gott im Himmel, is das wirklich wahr?«, fragte Jamie und strahlte über das ganze Gesicht.
    »Ja, wirklich, vielleicht will sie mit dir über dein Sparbuch sprechen. Worüber denn sonst? Vielleicht hat sie auch irgendwie Interesse ... Irgendein Interesse, dass du da noch was einzahlst oder vielleicht ...«
    Paddy verlor sich in weiteren Mutmaßungen, aber Jamie hörte ihm kaum zu, seine Stimme wurde immer leiser und ging fast im Motorengeräusch des Minor unter. Jamie lebte ganz in diesem Augenblick. In seinem Kopf wirbelten Erinnerungen und Spekulationen durcheinander. Lydeea ... Lily, meine kleine Schwester! Wie kann das sein? Sie ist doch als Baby gestorben. Die Nonnen haben es mir gesagt. Aber die Nonnen haben mir auch gesagt, dass ich nie einen Namen hatte. Die Nonnen haben vieles gesagt, was nicht stimmte. Das weiß ich jetzt.
    Dann erinnerte er sich an eine Bemerkung von Rose.
    »Paddy, hat Rose nicht gesagt, als sie uns im Royal Neptune Hotel gesehen hat, dass wir beide die gleiche Nase haben?«
    »Ja, das stimmt! Sie hat gesagt, ihr könntet Bruder und Schwester sein, so ähnlich seht ihr euch.«
    Als der Minor in den Hof der McFaddens ratterte und Lydia auf ihn zulief, um ihn zu begrüßen, verabschiedete sich Jamie für immer von dem verschreckten kleinen Jungen, von dem Kind, das man Sechsundachtziggerufen hatte und in dessen gequälten Träumen diese sonnenbeschienene Zukunft geglänzt hatte.
    Er wusste nun, dass die ganze beschwerliche Reise seines Lebens eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen war, in dem er auf seine Schwester zulief. Dieser eine vollkommene Moment, frei von Schmerzen und Einsamkeit, frei von Erinnerungen an grausame Menschen in dunklen Räumen, die ihn so lange verfolgt hatten.
    Denn in der tränenreichen, überwältigenden Wärme von Lilys Umarmung verstand James Kevin Barry Michael McCloone mit der größten Freude, dass er das alles überlebt hatte und dass er leben wollte.
    Er wollte leben und singen und tanzen und spielen an jedem seiner wunderbaren,
    seiner kostbaren,
seiner von Gott gegebenen,
liebestollen,
von Lily geretteten Tage.

Hinweis
    Auch wenn es sich um ein fiktionales Werk handelt, beruhen die geschilderten Zustände im Waisenhaus auf realen Situationen. Die Tätigkeiten der Kinder, ihre Erniedrigung und Bestrafung stimmen mit vielen Berich ten von Menschen überein, die solche Institutionen überlebt haben.
    Solche Einrichtungen – die »Industrial Schools«, Waisenheime und »Magdalenen-Wäschereien« – wurden fast ein ganzes Jahrhundert lang von bestimmten Orden in Irland unterhalten. Von diesen Institutio nen, die eigentlich nichts anderes als Orte der Sklavenarbeit waren, hat die römisch-katholische Kirche großen Profit gezogen – auf Kosten verwaister Kinder oder von
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