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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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    Jamie McCloone richtete sich benommen in seinem Bett auf; ihm war heiß und er konnte sich wegen seiner Kreuzschmerzen kaum bewegen.
    Früh am Morgen gab er nicht gerade einen eleganten Anblick ab, vor allem nicht nach einer berauschten Nacht, die er in verbitterter Schlaflosigkeit verbracht hatte; eine Nacht, in der er sich hin- und hergeworfen, geweint, Jesus und seine Mutter, überhaupt alle Frauen – vor allem aber Nonnen – verflucht und allen Kindern unter zehneinhalb Monaten die Pest an den Hals gewünscht hatte. So alt war er gewesen, als seine Mutter ihn eines kalten Novembermorgens im Jahr 1934 in der Einkaufstüte einer Curleys-Filiale auf den Steinstufen des Waisenhauses der heiligen Agnes bei den Barmherzigen Schwestern in der Stadt Derry abgesetzt hatte.
    Von dem Tag an fürchtete er sich davor, in der Dunkelheit eines riesigen Beutels aufzuwachen und von einer Frauenhand auf den nackten Po geschlagen zu werden. Er hatte Angst vor dem Klirren von Schlüsseln und Rosenkränzen und davor, in Waschräumen eingeschlossen zu werden, dünnen Haferschleim aus Schüsseln und Lebertran von Löffeln eingeflößt zu bekommen. All diese Ereignisse hatten sich über die Jahre in die Windungen seines Gehirns eingeschrieben. Die Verletzungen, die ihm zugefügt worden waren, konnte er nicht mehr vergessen. Menschen konnte er nur noch mit Misstrauen und Veränderungen nur noch mit Unruhe begegnen. Er war gezwungen, ein unbedeutendes Leben zuleben, voll unerfüllter Träume und verlorener Hoffnungen, ohne Freude, ohne Bedeutung, ohne Liebe.
    Jamie gähnte, strich sich über die stoppeligen Wangen und rieb sich am rechten Ohr. Es ragte etwas höher hinaus als das andere, wodurch man den Eindruck hatte, er würde ständig von einer überirdischen Hand himmelwärts gezogen. Wegen dieser kleinen Fehlbildung war er schon in der Schule schikaniert und auf der Straße komisch angesehen worden. Andere Jungen träumten von Spielzeugeisenbahnen und Cowboygewehren, Jamie hätte einfach gerne zwei normale Ohren gehabt.
    Von der Bettkante starrte er auf seine ungeschlachten Füße hinunter und fragte sich, wozu sie ihm eigentlich einundvierzig Jahre lang gedient hatten. Doch schon im nächsten Moment brauchte er sie, um die Erinnerung an die Schlampe, die seine Mutter gewesen sein musste, brutal in Grund und Boden zu stampfen, obwohl Jamie eigentlich kein gewalttätiger Mann war. An diesem Morgen saß er länger als sonst da und stierte einfach nur vor sich hin – vielleicht war sein Kater schlimmer als sonst. Er fand Gefallen daran, sich seine Rache auszumalen, während draußen die Vögel zwitscherten, der Hahn krähte, der Hund bellte, die Kühe muhten, weil sie hungrig waren, und der Tagesanbruch einen rötlichen Sonnenstrahl durchs Fenster warf.
    Als die Uhr im Flur sieben schlug, schreckte er aus seinen Träumereien hoch, stand vorsichtig auf und zog sich an.
    Erst das rotkarierte Hemd. Dann die Armeehose, die er über seinen dicken Bauch zog und überflüssigerweise mit braunen Hosenträgern sicherte, die er sich nun überstreifte und mit einem zufriedenen Grunzen zurückfedern ließ. Schließlich seine vom Matsch des letzten Winters verkrusteten Gummistiefel.
    In der Küche ließ er Wasser in den eingedellten Kessel laufen, hielt ein Streichholz an den Gasring, zog einen angeschlagenen Becher unter einem Stapel Geschirr im fettverschmierten Spülbecken hervor und machte sich Tee.
    Er bewegte sich mit übertriebener Vorsicht in den engen Räumen, so als balanciere er einen zentnerschweren Sack Kohlen auf dem Kopf. Alsragten überall aus seinem Körper empfindliche Antennen, die auf jede Berührung reagierten, oder als sei er aus zerbrechlichem Material und laufe auf einem Hochseil aus Glasscherben.
    Jamie McCloone hatte das Kalksteinhäuschen in Duntybutt von Alice und Mick geerbt, seinen Adoptiveltern. In seiner hundertfünfjährigen Geschichte hatte es sich nicht sehr verändert. Keine Frau hatte es je lange genug unter dem kaputten Dach ausgehalten, um das rustikale Haus sauber zu machen und in Schuss zu halten und kein einigermaßen empfindlicher Mann hatte es je betreten, ohne den Atem anzuhalten. Vater Brannigan, der Gemeindepastor, blieb meistens auf der Schwelle stehen, wenn er seine monatlichen Bezüge abholen kam, und gab vor, sich die Nase zu putzen, um Jamie nicht zu verletzen. »Nur die Bronchitis, Jamie, nehme ich mit, wohin ich gehe. Das ist das kleine Kreuz, das ich zu tragen habe.«
    Jamie schenkte sich
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