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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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Mutter zurückgestellt hatte. Sie hatte fast zwei Stunden für sich, während Elizabeth sich die Haare machen ließ. Die Friseurin war für ihre Mutter das, was für andere ihr Drink war. Oder andere Schwächen. Sich frisieren zu lassen war eine der wenigen Vergnügungen, die ihr noch blieben.
    Lydia setzte sich an den Tisch, breitete die Serviette aus, goss sich Tee ein und ließ goldenen Honig aus einem wabenförmigen Glas auf den Toast träufeln. Auf einmal wurde sie sich der Einsamkeit bewusst, doch in dem ruhigen, hellen Zimmer gab sie ihr Kraft. Zwischen den Geräuschen schwoll die Stille an: zwischen dem Verkehr, der auf der Straße vorbeirauschte, dem Weinen eines Kindes aus dem benachbarten Haus, dem Geklapper hoher Absätze auf dem Bürgersteig. Noch näher war das leiser werdende Pfeifen des Kessels auf dem Herd, das Klirren ihrer Tasse auf dem Porzellanunterteller, das Brummen des Kühlschranks in der Ecke, ihr eigenes Schlucken.
    Ihr fiel auf, mit wie vielen Erinnerungsstücken die Küche ihrer Mutter zugestellt war, und einen Moment lang war sie wieder ganz in ihre Kindheit abgetaucht, die sie so gerne vergessen wollte. All die Nippsachen an den Wänden und auf den Regalen ließen sie wieder an die Ereignisse denken, in deren Folge sie dort hingestellt worden waren. Lydia wusste, dass dieser Plunder nicht weggeworfen werden konnte, bevor ihre Mutter gestorben war. Ihre Verbindungen zur Vergangenheit.
    Der auferstandene Christus sah freundlich von seinem goldgerahmten Druck auf sie herab. Sie hatte ihn ihren Eltern als Zwölfjährige zumHochzeitstag im Good Shepherd gekauft. Damals hatte ihr der Mann hinter der Theke des Buchladens Angst eingejagt. Sie erinnerte sich an seine tief in den Höhlen liegenden Augen, den langen weißen Bart und seinen violetten Mund. Er sah selbst aus wie der auferstandene Christus. Das Wechselgeld hatte er ihr mit langen bleichen Fingern in die geöffnete Handfläche gezählt und »Gelobt sei Gott, mein Kind« gekrächzt, woraufhin sie zur Tür hinausgestürzt war.
    Ihre Eltern hatten beim Auspacken des Bildes beifällig gelächelt. Ihr Vater hatte aus dem Nichts Hammer und Nagel herbeigezaubert und das Bild an der Wand befestigt. Und da hing es nun seit achtund zwanzig Jahren. Wahrscheinlich hing das Porträt der lächelnden Königin Elizabeth darunter auch schon so lange dort, ebenso wie die aufgefächerten Souvenir löffel von Reisen an die Küste und der verblasste Wand teppich mit den Vögeln, die über ihre verschwommenen Spiegelbilder auf einem Teich flogen – wie alt er war und wem er gehört hatte, wusste sie nicht, aber sie glaubte, dass es sich um ein weiteres kostbares Hochzeitsgeschenk handeln musste.
    Ihr schien, dass jedes einzelne Zimmer sie in irgendeine rührselige Falle locken konnte.
    Der Einwurf von Post holte sie in die Gegenwart zurück. Sie ging in den Flur und sammelte die Briefe auf, die auf der »Segne dieses Haus«-Matte lagen.
    Eine Rechnung von den Stadtwerken, eine Wurfsendung von Gallaghers Möbelhaus (zwanzig Prozent auf alle Sitzgruppen aus Velours) und ein steifer Pergamentumschlag, in dem bestimmt eine Grußkarte steckte. Sie warf die Werbung weg, steckte die Rechnung in Onkel Sinclairs Holzkatze auf dem Fensterbrett in der Küche und setzte sich wieder an den Tisch, um den Brief zu öffnen.
    Es war eine goldgeränderte Einladung zur Hochzeit ihrer alten College freundin Heather Price. Meine Güte, mit der hatte sie doch seit Jahren kein Wort mehr gewechselt!
    Herbert und Henrietta Price
geben sich die Ehre
Lydia Devine & Partner
zur Hochzeit ihrer Tochter Heather mit Mr Simon Taylor am 28. August 1974 in der Gemeindekirche St. Hilda und zum anschließenden Empfang in das Ross Park Hotel, Main Street, Killoran, einzuladen.
    Lydia las die Einladung mit wachsendem Unbehagen. Es war das Wort »Partner«, das ihr Beklemmungen verursachte. Ihre alten Freundinnen schienen jetzt alle verheiratet zu sein, nur sie nicht. Sie hatte bereits an zu vielen Hochzeiten teilgenommen und wollte sich nicht noch einmal in Gesellschaft ihrer reizbaren Mutter schämen müssen. Sie kannte das hämische Grinsen, das sie aufsetzten, wenn sie sie fragten: »Und was ist mit dir, Lydia? Wann bescherst du uns denn mal einen großen Tag?«
    Sie steckte die Karte in den Umschlag zurück. Schon der Gedanke daran machte sie wütend. Ja, sie würde zu dieser verdammten Hochzeit gehen, und sie würde einen Mann finden, der sie begleitete – und wenn sie ihn dafür
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