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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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lachte und Jamie lächelte ihn an.
    »Gut so, James. Versprechen Sie mir jetzt, ein paar Tage Urlaub zu machen?«
    »Ja, das tue ich, Doktor!«
    »Gut. Sehr gut.« Der Arzt nahm den Füller in die Hand und schrieb weiter. »Ich verschreibe Ihnen Schmerztabletten. Nehmen Sie zwei davon am Abend vor dem Schlafengehen, die sollten die Schmerzen am Morgen erträglicher machen.«
    Er riss das Rezept vom Block und reichte es Jamie herüber.
    »Das mit meinem Rücken is also nich so ernst, Doktor?«
    »Nein, nichts Ernstes. Gladys Millman. Pension Ocean Spray.«
    »Was?«
    »Auf der Promenade. Es soll das Beste am Ort sein.«
    »Ach so. Danke, Doktor.«
    Jamie stand auf, dankbar, dass die Prüfung vorbei war, der Arzt ihn nicht untersucht und auch nicht nach seinen Rauch- und Trinkgewohnheiten gefragt hatte.
    »Dann geh ich jetzt«, sagte er erleichtert. »Ocean Spray, heißt es so?«
    »So heißt es. Kopf hoch, James!« Dr. Brewster stand auf und begleitete ihn zur Tür. »Und nehmen Sie die Pillen. Dann müssen Sie nicht so viel grübeln. Es ist wichtig, dass Sie sie nicht absetzen, ohne mir Bescheid zu geben.« Er tätschelte ihn am Arm. »Und wenn Sie aus Portaluce zurückkommen, berichten Sie mir davon. Abgemacht, James?«
    »Ja, abgemacht, Doktor. Sie haben bestimmt recht. Tschüssing!«
    Lydia parkte ihren zweitürigen Fiat 850 vor dem Frisiersalon Cut ’n Curl auf der Hauptstraße von Killoran und half ihrer Mutter aus dem Beifahrersitz. Das war sehr umständlich, denn Mrs Devine hatte Rheuma, wollte sich aber partout von niemandem helfen lassen. Lydia bemühte sich rund fünf Minuten, die sich sträubende, wehrhafte, alte Dame zu fassen zu bekommen, und schließlich standen beide auf der Straße, die Autotür wurde zugeworfen und sie machten sich langsam und vorsichtig auf den Weg in den Salon.
    Susan, die junge Friseurin, sprach sofort freundlich auf Mrs Devine ein; sie wollte sie so schnell wie möglich aus dem Mantel und ans Waschbecken bekommen. In Susans Branche war Zeit Geld, und Elizabeth konnte manchmal ganz schön anstrengend sein und hielt sie mit ihren langatmigen Geschichten und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten endlos auf; Geschichten, in denen die Meinungen ihres verstorbenen Gatten, des Pfarrers Perseus Cuthbert, und die Unzulänglichkeiten der jungen Generation immer eine übergeordnete Rolle spielten.
    Da ihre Mutter nun in guten Händen war, erinnerte sich Lydia an ihre Verabredung. »Ich hole dich in zwei Stunden wieder ab, Mutter, so gegen ...« Sie schob den Ärmel des Jacketts zurück und sah auf die Uhr. »Um Punkt halb vier. Das langt doch für Dauerwelle und Tönung, Susan?«
    »Ja, das kommt hin, Lydia«, rief die Friseurin über die Schulter, während sie Elizabeth bereits zum Waschbecken steuerte. »Die Farbe muss eine halbe Stunde einwirken.«
    »Wohin gehst du?«, fragte Mrs Devine ihre Tochter. »Warum bleibst du nicht hier bei mir?«
    »Mutter, ich hab es dir doch schon gesagt: Ich habe etwas vor.« Und damit floh sie.
    Lydia fuhr erleichtert nach Hause zurück und war froh, etwas Zeit für sich zu haben. Nur in diesen Intervallen, in denen ihre Mutter nicht da war, konnte sie das Alleinsein und die Stille richtig genießen. Sie sehnte sich oft nach einem freien und unabhängigen Leben und träumte von einem ruhigen Ort, an dem sie niemandem außer sich selbst Rechenschaft ablegen musste. Andererseits traute sie sich nicht, sich eine solche Zukunft auszumalen, denn erst musste ja etwas Einschneidendes eintreten. Sie fürchtete sich auch vor dem Tag, an dem ihre Mutter sie nicht mehr rufen würde, an dem sie nicht mehr gebraucht werden würde, um »den dunklen Weg durch das Kleid« zu finden, an dem sie kein Frühstückstablett mehr ins Zimmer der alten Dame bringen musste.
    Die Bedürfnisse ihrer Mutter kamen immer zuerst, und das stellte Lydia selten infrage. Gehorsam und Fügsamkeit waren ihr vor vielenJahren vom strengen presbyterianischen Vater eingebläut worden, dessen unbeugsamer Geist selbst nach seinem Tod fortlebte. Seine donnern den Predigten hallten durch ihre Tage und das angsterregende Bild von ihm mit geblähten Nasenflügeln auf der Kanzel, die großen Hände fest ums Bibelpodest geklammert, stand ihr so klar vor Augen wie der Druck von Vermeer, der im Wohnzimmer hing. Als Einzelkind hatte sie sich ganz dem vierten Gebot – Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren – verschrieben. Aus dem hilflosen, gehorsamen kleinen Mädchen war im Nu eine selbstlose
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