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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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zitternd Tee ein und schleppte seinen Becher und seinen schmerzenden Körper zu seinem Lehnstuhl am Kamin. Er schluckte ein Valium. Die Pillen standen zwischen ihm und allzu viel Wirklichkeit. Wenn er sie nahm, grübelte er nicht so sehr über seine Vergangenheit. Seit sein Adoptivvater gestorben war, hatte er immer wieder durch den Morast seiner Kindheit waten müssen. Die Pillen hatten ihm dabei geholfen, den Kopf über Wasser zu halten.
    Gedämpft drangen die fordernden Geräusche von der Farm an sein Ohr, alle Tiere wollten gefüttert werden, alle erinnerten ihn an den Tag, der noch vor ihm lag.
    »Ich bin ja gleich bei euch!«, rief er unwirsch. »Ihr bekommt euer Fressen noch schnell genug!«
    Er beugte sich vor, um das heruntergebrannte Feuer wieder zu entfachen. Es antwortete mit einem langgezogenen Zischen – Jamie fürchtete schon, er hätte den Teufel persönlich geweckt. Ohne jede Vorwarnung spuckte es einen Kohlesplitter aus, der über den Boden schlitterte, am Tischbein abprallte und unter Jamies Lehnsessel verschwand, wo er von einem der Abfallhäufchen gestoppt wurde, aus denen sein Haus bestand. Er stellte den Schürhaken wieder an den Kamin zurück und starrte auf seinen Schoß.
    Sein linkes Hosenbein war gerissen. Vor zwei Wochen war er mit dem Bein an einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben, als er versucht hatte, eine Ziege auf einem hügeligen Feld anzupflocken. Seitdem hatte Jamie jeden Morgen dagesessen und auf den zerrissenen Stoff gestarrt, seinen Finger ins Loch gebohrt, hin- und hergewackelt und überlegt, dass er es vielleicht mit ein, zwei Stichen nähen sollte, bevor es größer wurde. Dann sah er schuldbewusst zu dem Glasschrank hinüber, wo ein Päckchen Nadeln in Form eines knallig bunten Blumenbouquets stand. Er erinnerte sich daran, wie er es einer fahrenden Frau abgekauft hatte, und wie sie seinen Arm umklammert hatte, nachdem sie seinen Penny in die Tasche gesteckt und gesagt hatte: »Bald wird Gott dich belohnen, Sohn. Jetzt ist noch alles dunkel, aber bald wird es hell, du wirst es schon sehn.« Ihre Zigeuneraugen hatten in der Mittagssonne gestrahlt und ein goldener Zahn war in ihrer Mundhöhle aufgeblitzt. Jamie brütete noch eine Minute über dem Bild der alten Frau und kam dann zu dem Schluss, dass die Nadeln inzwischen bestimmt verrostet waren. Und wenn nicht, wo sollte er dann einen Faden hernehmen? Außerdem sahen ihn den ganzen Tag lang sowieso nur die beiden Kühe und das Schwein.
    Nachdem er sich auf diese Art beruhigt hatte, seufzte er und verstaute die Sache mit der zerrissenen Hose, den Nadeln und der fahrenden Frau hinten in seinem Kopf in der Kiste mit dem Etikett »kann warten«. Eine Kiste, an der der frauenlose Jamie vor lauter unerledigten Aufgaben und nicht eingehaltenen Vorsätzen immer schwerer trug, denn er war ein Mann, der tausend Nichtigkeiten aufgeschoben hatte.
    Er hätte auch die Farmarbeit aufgeschoben, wäre Onkel Mick noch da gewesen, um die Zäune zu reparieren, den Mais zu ernten, die Tröge zu füllen und der Kuh eins mit dem Stock überzuziehen, wenn es nötig war. Aber jetzt musste er diese Arbeiten erledigen. Ein endloser, mühseliger Tag lag vor ihm. Er hatte sich angewöhnt, sich morgens erst mal etwas auszuruhen, denn er fand sich danach produktiver. Doch je länger er herumsaß, desto drängender wurden die Laute der Tiere vom Hof.
    Nach zehn Minuten stand er abrupt auf, kippte den letzten Schluck Tee hinunter, spülte den Becher eilig unter der Leitung, stellte ihn wiederins Becken und schlurfte zurück ins Schlafzimmer, um sich fertig zu machen.
    Unter Waschen verstand Jamie, seine Haare zu kämmen – seine ach so missratenen Haare – und sein Gesicht mit der bloßen Hand abzuspülen, statt mit einem feuchten Waschlappen. Er sah sich bestürzt im verbeulten Spiegel auf der Kommode an, kämmte sich die Haare – um die Glatze zu verdecken – von einer Seite auf die andere, wo sie ihm wie der Schwanz einer Eselin auf die linke Schulter fielen. Eine tiefe Narbe lief vom rechten Auge zum Kinn, als hätte sich dort der Kummer seines Lebens eingegraben. Mit seiner langen Nase und dem gries grämigen Mund sah er vielleicht nicht gut aus, aber seine unschuldigen grünen Augen ließen einen die Unvollkommenheiten seines Gesichtes vergessen.
    Er seufzte über den Mann, der ihm da entgegenblickte, ein Prophet der klassischen Antike mit einem Kopfhautproblem. Jeden Morgen spürte er einen Stich des Bedauerns über den Verlust seiner Haare,
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