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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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    »Sesam, öffne dich!« Ich drücke auf die Fernbedienung des Eingangstores, schalte in den ersten Gang und fahre im Schritttempo unsere Auffahrt hinauf. Im Rückspiegel beobachte ich die Reaktion meiner jüngeren Tochter.
    Charlotte sitzt hinter mir und reckt den Kopf so hoch sie kann, um nichts von dem Schauspiel zu versäumen. Zwar sieht sie es tagtäglich, aber für sie ist und bleibt es ein Wunder. Und obwohl ich, ihre Mutter, die Technik hinter sich automatisch öffnenden Toren kenne, habe auch ich mich noch immer nicht daran gewöhnt. Womöglich werde ich mich ebenfalls für den Rest meines Lebens über Türen wundern, die wie von selbst vor mir aufgehen.
    »Ach, Mama«, ertönt Charlottes bewundernde Stimme von hinten, »wann bringst du mir das endlich auch mal bei?«
    »Wenn du groß bist«, erwidere ich. »Um zaubern zu lernen, muss man mindestens sieben sein, Schatz. Wie deine große Schwester.«
    Charlotte verdreht die Augen. »Das dauert noch so lange!«
    Im Spiegel suche ich Blickkontakt zu Fleur. Sie ist zwei Jahre älter als Charlotte und steckt mit mir unter einer Decke. Verstohlen zwinkere ich ihr zu. Fleur zwinkert ungeschickt zurück, mit schiefem, offenem Mund und zitternden Augenlidern. Ich muss unwillkürlich lachen.
    Während sich das Tor langsam hinter uns schließt, parke ich meinen Geländewagen vor der Garage. Es ist eine ehemalige Scheune aus rauem, schwarz gebeiztem Holz mit orangefarbenem Ziegeldach und weißen Fensterrahmen, die Platz für vier Autos und unzählige Fahrräder bieten würde. Trotzdem steht sie die meiste Zeit leer und dekorativ herum, im Schutz einer Gruppe von Kastanienbäumen. Nur wenn es friert, stellen Harald und ich unsere Autos hinein, das ganze restliche Jahr über so gut wie nie. Oft schließen wir nicht einmal ab.
    Das ist auch gar nicht nötig. Hier passiert nie etwas. Die Stadt ist weit weg, und bei uns auf der »Insel«, wie unser kleines Dorf von den Bewohnern genannt wird, kennen sich alle untereinander. Schon vor tausend Jahren entstand hier die erste Ansiedlung auf dem feuchten Lehmboden, umgeben von lockeren Wäldern und dichtem Gebüsch. Zu dem Ort gehören etwa zwanzig ansehnliche Häuser und ein kleines Schloss, dessen Ruinen nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang unter wild wuchernder Vegetation verborgen lagen. Erst vor wenigen Jahren hatte man es renoviert und dabei auch die Sträucher, Kletterpflanzen und alten Bäume gerodet, die das historische Gebäude vor Blicken geschützt hatten. Ich bedauerte das sehr, denn mir gefiel die geheimnisvolle Dornröschen-Ruine mit ihrem überwucherten Schlossgraben. Sie war einfach Teil des Landschaftsbildes gewesen.
    Rund um unsere winzige Halbinsel schlängeln sich große und kleine Flüsse und ihre Nebenarme, flankiert von zahllosen Deichen, in deren Schutz weitere kleine Dörfer liegen. Das ganze Gebiet ist von Wasserläufen durchzogen. Ohne Brücken und Fähren wären wir vollständig von der Außenwelt abgeschnitten.
    Zur Insel führt nur eine schmale, gewundene asphaltierte Zufahrtsstraße. An ihr liegen alle Häuser, auf großen Grundstücken, die von hohen Buchenhecken, knorzigen Ligustersträuchern, verwachsenen Obstbäumen und dichtem Gebüsch umgeben sind. Einige Gebäude erinnern mit ihren weiß gestrichenen Holzveranden und parkähnlichen Gärten an Herrenhäuser aus der Kolonialzeit. Daneben gibt es einige Villen aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, erbaut aus dunklen Backsteinen, mit breiten Dachrändern und Bleiglasfenstern. Hinter dem Wald, in der Nähe des Schlosses und den offenen Feldern, auf denen ich Humboldt regelmäßig die Sporen gebe, liegen einige Hausboote vor Anker. Doch bei den meisten Häusern auf der Insel handelt es sich um ehemalige Bauernhöfe, wie bei unserer Bleibe auch.
    Das Wohnhaus ist weiß gestrichen und hat kleine Fenster mit dunkelgrünen Läden sowie ein Reetdach. Harald hat hier schon gewohnt, als ich ihn kennenlernte. Damals war er Junggeselle und benutzte nur wenige Zimmer. Die übrigen waren leer und heruntergekommen. In den letzten neun, zehn Jahren wurde alles Schritt für Schritt renoviert, mit jener Gründlichkeit, die Harald eigen ist. Jedes Hunderte von Jahren alte Steinchen, das aus den schiefen Wänden fiel, hat er saubergeklopft und wiederverwendet. Die schmiedeeisernen Beschläge und Schlösser wurden in Handarbeit von einem Schmied hergestellt – gefertigt , wie Harald sich ausdrückt. Von außen sieht unser Haus aus, als sei
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