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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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beeilen.«
    Ich nicke einer kleinen Gruppe von Müttern zu, die sich im Hauseingang neben dem Tor untergestellt haben, und drehe mich um.
    In der Hektik der rennenden Kinder und der eintreffenden und abfahrenden Autos und Fahrräder fällt er mir zunächst gar nicht auf. Er hält sich ein wenig abseits, steht reglos unter einem Baum, die Hände in den Taschen einer sportlichen, grauen Jacke. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen.
    Erst, als ich schon mehrere Schritte an ihm vorbeigegangen bin, reagiere ich, und es durchzuckt mich eiskalt.
    Ich blicke ungläubig über die Schulter zurück, im Grunde nur, um mich davon zu überzeugen, dass ich mich geirrt habe. Dass mein überspannter Verstand mich zum Narren gehalten hat.
    Aber ich habe richtig gesehen.
    In der rechten Hand hält er eine Zigarette, in der für ihn typischen Art und Weise: mit Daumen und Zeigefinger, die übrigen Finger seiner Hand wie ein Dach darübergelegt. Seine dunklen Augen starren mich unverwandt an.
    Er drückt sich von dem Baum ab und macht Anstalten, auf mich zuzugehen.
    Ich höre nichts mehr, spüre den Regen nicht, merke kaum, dass ich in eine Pfütze trete. Das Einzige, woran ich noch denken kann, ist, dass ich die Kinder in Sicherheit bringen muss, dass ich so schnell wie möglich zum Auto muss. Weg, weg, weg!
    »Mama, guck mal!«, ruft Fleur. Sie hüpft ein paar Meter weiter auf einem Bein durch die Pfützen, mein kleines, zartes Püppchen. Dann dreht sie sich um und droht, sich noch weiter von mir zu entfernen.
    »Bleib hier!«, schreie ich. »Nicht weglaufen!«
    Fleur erstarrt und sieht mich erschrocken an. »Was ist denn los, Mama?«
    Ich lasse den Regenschirm fallen. Er hüpft über die Bürgersteigplatten, wird vom Wind ergriffen und taumelt in die Gosse.
    Ich packe Fleur am Arm und zerre sie mit mir. Ich renne so schnell, wie die Mädchen nur können, zum Auto. Dort angekommen, reiße ich die hintere Tür auf, ziehe die Kinder nacheinander von der Straße und werfe sie praktisch auf die Rückbank.
    »Schnallt euch an!«, schreie ich und schlage die Tür zu.
    Voller Panik blicke ich mich um.
    Chris ist nirgends zu sehen.
    War er allein?
    Ich springe ins Auto, vergesse, selbst den Sicherheitsgurt anzulegen, und verlasse das Wohnviertel.
    Auf der Rückbank zwei weinende Kinder.

Eins
    Ravelin, der – »Italienisch: rivellino«. Drei- oder fünfeckiges Bauwerk an der Außenseite einer Festungsmauer mit hauptsächlich strategischer und schützender Funktion.
    Die beiden Porträtfotos, die mir so viel bedeuten, hängen nebeneinander im Foyer, an zentraler Stelle an einer sehr hohen, weißen Wand hinter dem Empfang. Das Gesicht meines Großvaters ist in Schwarzweiß abgebildet, in dem offiziellen, würdevollen Stil, der in den sechziger Jahren populär war. Seine dunklen Augen blicken eindringlich ins Foyer, streng umrahmt von einer dicken Hornbrille. Sein lockiges Haar ist streng gescheitelt und mit Brillantine gebändigt. Auf dem Foto sehen seine Haare schwarz aus, aber ich weiß, dass er in Wirklichkeit dunkelblond war.
    Daneben hängt ein Foto meines Vaters, das gleiche Format, aber in Farbe und Mitte der neunziger Jahre aufgenommen. Von meiner Großmutter lässt sich im Aussehen meines Vaters kaum etwas wiederfinden. Die Van-Santfoort-Männer gleichen einander. Wir sind alle groß, haben weiche Gesichtszüge, Locken und braune Augen.
    Dieses Gebäude, ein ehemaliges Herrenhaus, hatte bereits eine bewegte Geschichte, als mein Großvater es 1937 erwarb. Im Erdgeschoss eröffnete er sein Maklerbüro, und in den Stockwerken darüber wohnte er zusammen mit seiner Frau Aleida. Und dort, im ersten Stock auf der Rückseite des Gebäudes, in einem Zimmer mit hohen Fenstern, die Aussicht über einen Teil des alten Städtchens und die Stadtmauer bieten, wurde mein Vater geboren. Ungefähr an der Stelle, an der jetzt sein Schreibtisch steht, so hat Großvater mir versichert.
    Der Firmenname Ravelin Immobilien geht auf meinen Großvater Paul van Santfoort zurück. Dass er sich eine architektonische, historische Bezeichnung für sein Maklerbüro ausgesucht hat, war bezeichnend für ihn. Die uneingeschränkte Liebe, ja, Leidenschaft für Geschichte und solides handwerkliches Können ist eine Eigenschaft, die ich mit ihm gemeinsam habe. Ehrliche Produkte, gefertigt in kleinen Betrieben und vorzugsweise in einer Epoche, in der es noch keine Massenproduktion gab. Großvater liebte genau wie ich Häuser mit einem einzigartigen Charakter, von
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