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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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man um hundert Jahre in der Zeit zurückversetzt, doch im Inneren ist es vollständig an das einundzwanzigste Jahrhundert angepasst. Wir besitzen eine bodengleiche Dusche, eine Sauna und eine moderne Küche mit Kochinsel, wobei die Originalbalken in beiden Stockwerken noch sichtbar sind. Das Vorderhaus, in dem Harald sein Schlafzimmer hatte, als er noch allein wohnte, wurde in eine beeindruckende, geräumige Diele verwandelt, und der Alkoven dient jetzt als Garderobe.
    Zuerst habe ich mich in Harald verliebt, dann in dieses Haus, anschließend in die Insel, und jetzt will ich hier nie wieder weg.
    Ich schalte in den Leerlauf, ziehe die Handbremse an und steige aus. Hänge die Tasche über die Schulter und öffne die hintere Tür, um die Kinder aus ihren Sicherheitsgurten zu befreien.
    Fleur klettert ungeduldig über ihre kleine Schwester nach draußen. »Ich gehe mal gucken, ob Reddy schon Junge hat.«
    Charlotte lässt sich aus dem Auto rutschen und rennt dann hinter ihrer Schwester her um das Haus herum. Ihre dünnen, blonden geflochtenen Zöpfe schwingen hin und her.
    »Passt ihr auf?«, rufe ich aus Gewohnheit. »Nicht rennen!« Und füge dann überflüssigerweise hinzu: »Gleich fallt ihr noch hin!«
    Ich hebe eine Kiste mit Einkäufen aus dem Kofferraum und gehe zwischen der Garage und dem Haus hindurch zur Hintertür. Eine sanfte Brise streicht mir um die Beine, und die Luft ist erfüllt von unzähligen Blumendüften. Seit letzter Woche stehen die Pflaumenbäume in voller Blüte, und die Wiese ist übersät mit Gänseblümchen und Löwenzahn. Der Mai ist in dieser Gegend mit Abstand der schönste Monat des Jahres.
    Auf dem Rasen hinter dem Haus sitzt Reddy. Meine Töchter kauern links und rechts neben ihr, streicheln sie und reden ermunternd auf sie ein. Letzten Herbst ist sie uns zugelaufen, ein mageres, ausgehungertes rotes Straßenkätzchen, kaum sechs Monate alt. Niemand wusste, wem sie gehörte. Sie war nicht als vermisst gemeldet, und so haben wir uns ihrer angenommen. Jetzt wohnt sie in den Ställen, und manchmal finde ich sie morgens dort, zusammengerollt, auf einem der breiten Pferderücken schlafend. Ihrem Bauchumfang nach zu urteilen, der in beängstigendem Maße zunimmt, hat sich unsere Katze offensichtlich nicht nur mit Mäusefangen und Schlafen beschäftigt.
    Mein Handy klingelt. Ich stelle die Kiste auf den Boden, ziehe den Reißverschluss meiner Tasche auf und finde das Telefon nach einigem Suchen zwischen den Taschentüchern und den auszufüllenden Schulformularen von Fleur.
    »Claire? Ich bin’s. Hast du viel zu tun?«
    »Ach, hallo … Nein, nichts Wichtiges.« Ich schließe die Hintertür auf, klemme das Handy zwischen Ohr und Schulter und schleppe die Einkäufe hinein. »Ich habe gerade die Kinder abgeholt. Wir essen gleich ein Butterbrot, und dann bringe ich sie wieder in die Schule – wieso?«
    »Ich habe eine Akte in meinem Arbeitszimmer liegen gelassen. Könntest du sie mir vielleicht gleich vorbeibringen? Der Mandant kommt gegen vier.«
    »Wo liegt sie denn?«
    »Ich glaube, mitten auf meinem Schreibtisch. Eine grüne Mappe.«
    Ich verspreche Harald, ihm seine Akte später vorbeizubringen, schiebe das Handy zu und stecke es wieder in meine Tasche. Routiniert nehme ich eine Tüte mit Brot aus dem Brotkasten, stelle Schokostreusel und Erdnussbutter auf den Tisch und hole Halbfettmargarine und eine Packung mit jungem Gouda in Scheiben aus dem Kühlschrank.
    »Kommt ihr?«, rufe ich durch das offene Fenster hinaus.
    »Ich habe keinen Hunger«, klagt Charlotte.
    »Komm bitte trotzdem rein.«
    Murrend stehen die Kinder auf. Reddy bleibt allein auf dem Rasen zurück und trippelt in Richtung der Ställe. Von hinten sieht sie aus, als hätte sie eine Melone verschluckt.
    Ich hätte sie rechtzeitig sterilisieren lassen müssen, denke ich, während ich die Einkäufe einräume und eine Packung Milch und Gläser auf den Tisch stelle. Aber immer ist etwas dazwischengekommen, und wenn ich ehrlich bin, hat es mir auch widerstrebt, ein gesundes, kleines Tier operieren zu lassen. Es würde schon nichts passieren.
    Ich, Claire van Santfoort, bin eine Meisterin im Verdrängen.

2
    Die Fähre zur Festungsstadt ist eine der wenigen, die noch gratis fährt. Wer eher langsam unterwegs ist, etwa Traktoren, Fußgänger und Fahrräder, benutzt die laute, gelb gestrichene Seilfähre. Die Autofahrer nehmen meist die paar Kilometer Umweg über die Schrägseilbrücke in Kauf, um den Fluss zu überqueren, denn das
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