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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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zusammen überlegt, ob er seinem Chef davon erzählen soll oder nicht. Wenn es nicht wahr wäre, würde es ihn seinen Job kosten.
    Und wenn es wahr wäre, ebenfalls.
    Doch höchstwahrscheinlich hat Chris gar nichts gesagt. Jedenfalls jetzt noch nicht, so lange, bis ihm eingefallen ist, wie er aus seinem Wissen Profit schlagen kann.
    »Mama?«
    Ich blicke auf.
    Fleur starrt mich an, die blauen Augen weit aufgerissen, die Augenbrauen hochgezogen. »Geht es dir gut, Mama?«
    »Ja, ja, natürlich, Schätzchen.« Ich lege meine Hand beruhigend auf ihre. »Lass mal sehen, bist du fertig?«
    Sie schiebt mir ihre Aufgabe zu. »Darf ich jetzt fernsehen?«
    »Ja, von mir aus«, höre ich mich sagen. Dann werfe ich einen Blick auf das Blatt Papier, auf das sie mit ihrer winzigen Handschrift die Achterreihe geschrieben hat.
    Fehlerlos.
    »Alles richtig, Fleur!«, rufe ich, aber sie hört mich schon nicht mehr. Sie hat sich zu ihrem Vater und ihrer kleinen Schwester aufs Sofa gekuschelt.
    Ich stehe auf. Falte das Blatt Papier in der Mitte und gehe in die Küche. Dort knülle ich es zusammen und werfe es in den Müll. Ich stütze mich mit beiden Händen auf der Granitarbeitsplatte ab und schaue hinaus. In der Ferne sehe ich Reddy vorbeilaufen. Noch weiter weg, hinter den Sträuchern und den Obstbäumen, grasen Humboldt und Donky auf der Weide. Sie müssen noch reingeholt werden. Das mache ich gleich, wenn die Kinder im Bett liegen.
    Seit heute Nachmittag gebe ich mir die größte Mühe, mich so normal wie möglich zu verhalten, aber ich vermute stark, es gelingt mir nur teilweise. Meine Grübeleien machen mich schier verrückt. Immer wieder spiele ich neue Varianten dessen durch, was möglicherweise geschehen könnte, und male mir regelrechte Schauerszenarien aus, tickende Zeitbomben unter meinem Leben und meiner Familie.
    Ich versuche, die düsteren Gedanken zu verdrängen, aber dadurch scheint es nur immer schlimmer zu werden. Mir geht es nicht gut. Mir ist übel, und ich spüre ein Ziehen im Magen, als hätte ich etwas Falsches gegessen. Ich habe leichte Kopfschmerzen und fühle mich zittrig. Mein Herz schlägt schneller als an Tagen, an denen ich mehr als sechs Tassen Kaffee getrunken habe.
    Mir wird klar, dass es Angst ist.
    Nackte Panik.

4
    »Manchmal bin ich richtig neidisch auf dich.«
    »Auf mich?«
    Natalie nickt. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals zuvor so etwas zu mir gesagt hätte. Aber sie hat in meinem Beisein auch noch nie vor zwölf Uhr mittags zwei Gläser Champagner getrunken. Sie suhlt sich heute in Selbstmitleid.
    Ich habe mich auf einen Espresso und ein Glas kaltes Perrier beschränkt. »Neidisch?«, frage ich. »Worauf denn?«
    »Worauf?« Sie lacht. »Geld wie Heu, verheiratet mit dem König Midas der Immobilienbranche, zwei hübsche Kinder, die ganze Familie Übelkeit erregend klug und gesund. Du wohnst in einem Traumhaus, umgeben von Pflaumenbäumen und Buchenhecken – es ist ein Wunder, dass Landleben noch nicht bei dir vor der Tür steht und darum bettelt, eine Reportage machen zu dürfen.«
    Ich schüttele den Kopf und lache, peinlich berührt. »Jetzt übertreibst du aber. Du wohnst auch nicht gerade in einer Hinterhausabsteige. Du hast eine wunderbare Tochter, eine tadellose Figur, führst ein freies Leben …«
    »Mein Mann ist abgehauen. Und dieses Jahr werde ich vierzig …« Sie hält inne, sieht mich todernst an und schweigt ein paar Sekunden lang. Dann lehnt sie sich vertraulich zu mir. »Neulich habe ich beim Friseur einen Artikel über dieses Thema in einer Zeitschrift gelesen.«
    »Über welches Thema?«
    »Darüber, dass es vollkommen normal ist, Frauen wie dich zu hassen.«
    »Frauen wie mich?«
    »Perfekte Freundinnen.«
    »Perfekt?« Beinahe verschlucke ich mich an dem Wort.
    Sie sagt keinen Ton, sondern sieht mich nur unverwandt an.
    »Na prima«, erwidere ich. »Seit wann glaubst du diesen Klatschblättern? Und übrigens: Hast du dir mal überlegt, dass ich vielleicht einen abscheulichen Hautausschlag haben könnte? Oder schlechten Sex? Oder überhaupt keinen Sex?«
    Vielleicht liege ich jede Nacht wach, liebe Natalie, weil die Werwölfe aus meiner Vergangenheit heulend an meiner Haustür kratzen.
    Heute ist es fast eine Woche her, dass ich Chris bei Ravelin gesehen habe. Sechs Tage, um genau zu sein. Ich habe es geschafft, meine Alltagsroutine wieder aufzunehmen, und immer häufiger gelingt es mir, für einen Moment nicht mehr daran zu denken und das Damoklesschwert, das
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