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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition)
Autoren: Elly Griffiths
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    Prolog
November
    Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, gehen einen Krankenhausflur entlang. Man merkt ihnen an, dass sie nicht zum ersten Mal hier sind. Die Miene der Frau ist versonnen, voller Erinnerungen, der Mann blickt argwöhnisch, zögert kurz am Eingang zur Station. Die lange Verbotsliste an der Tür wirkt aber auch einschüchternd: keine Blumen, keine Mobiltelefone, keine Kinder unter acht Jahren, niemand mit Husten oder Schnupfen. Die Frau deutet auf das Handy-Verbotsschild – ein energisch durchgestrichener Umriss eines nicht mehr ganz aktuellen Modells –, aber der Mann zuckt nur die Achseln. Sie lächelt, ist solche Reaktionen von ihm offenbar gewohnt.
    Sie drücken auf den Türöffner und werden eingelassen.
    Schon drei Betten weiter bleiben sie stehen. Im Bett sitzt eine Frau mit braunem Haar und hält ein Baby im Arm. Sie stillt es nicht, betrachtet es einfach nur unverwandt, als wollte sie sich jeden Gesichtszug genau einprägen. Die Besucherin, blond und attraktiv, umarmt die junge Mutter und küsst sie auf die Wange. Dann beugt sie sich über das Baby, streift es dabei mit ihrem Haar. Das Baby öffnet unergründlich dunkle Augen, bleibt aber still. Der Mann hält sich noch im Hintergrund, doch jetzt winkt die blonde Frau ihn näher heran. Er küsst weder Mutter noch Baby, brummt nur eine Bemerkung, über die beide Frauen nachsichtig lachen.
    Es ist nicht weiter schwierig, das Geschlecht des Babys zu erraten: Das ganze Bett ist von rosa Karten und Schleifen umgeben, dazwischen findet sich sogar ein schon etwas schlaffer Luftballon mit der Aufschrift: «Hurra, ein Mädchen!» Das kleine Mädchen selbst trägt allerdings einen marineblauen Strampler, so als wollte die Mutter sich von Anfang an gegen jegliches Klischee verwahren. Die blonde Frau nimmt das Baby auf den Arm, und es mustert sie aus seinen dunklen, ernsten Augen. Die Braunhaarige sieht zu dem Mann hin, wendet den Blick aber rasch wieder ab.
    Als die Besuchszeit vorüber ist, verabschiedet sich die Blonde mit Geschenken und Küssen und streichelt dem Baby ein letztes Mal über den Kopf. Der Mann steht vor dem Bett und tritt von einem Fuß auf den anderen, hat es offenbar eilig, wieder wegzukommen. Die frischgebackene Mutter lächelt und hält ihr Baby im Arm, der ewige Inbegriff seligen Mutterglücks.
    An der Tür dreht sich die blonde Frau noch einmal um und winkt. Der Mann ist bereits draußen.
    Doch fünf Minuten später kommt er zurück, allein und schnell, fast im Laufschritt. Vor dem Bett bleibt er stehen. Die Frau drückt ihm wortlos das Baby in den Arm. Es verhält sich immer noch ruhig, doch die Frau weint.
    «Sie sieht aus wie du», flüstert sie.

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    1
März
    Es ist Ebbe. Im Licht des frühen Abends erstreckt sich der Sandstrand bis in weite Ferne, ein langes Band aus Gelb und Grau und Gold. Zwischen den Steinen spiegelt sich blassblauer Himmel in den Wasserlachen. Drei Männer und eine Frau gehen langsam den Strand entlang; hin und wieder bleiben sie stehen, um etwas am Boden näher zu betrachten, nehmen Proben, machen Fotos. Einer der Männer hält eine Art Stock in der Hand, den er in regelmäßigen Abständen in den Sand steckt. Sie passieren einen Felsen mit einem einsamen Leuchtturm, dessen kecker rot-weißer Anstrich bereits abblättert, und ein Strandstück, das seit kurzem vom Geröll eines Steinschlags versperrt ist, sodass sie zum Meer hin ausweichen und ein Stück durch das seichte Wasser waten müssen. Dahinter geht der lange Sandstrand in eine Reihe kleinerer Buchten über, halbrund wie aus dem weichen Sandstein herausgebissen. Die vier kommen jetzt langsamer voran, weil sie über tangglitschige Felsen und über Bruchstücke alter Wellenbrecher klettern müssen. Einer der Männer fällt ins Wasser, und die beiden anderen lachen, dass es in der stillen Abendluft widerhallt. Die Frau stapft einfach weiter, ohne sich umzudrehen.
    Schließlich gelangen sie an eine Stelle, wo der Fels als kahle Landzunge weit ins Meer hineinragt. Die Klippen fallen hier steil ab und bilden eine v-förmige Bucht, die von der Flut wohl besonders schnell erreicht wird. Die Wellen, von weißer Gischt gekrönt, rasen nur so auf die schartigen Felsen zu, begleitet vom wilden Kreischen der Möwen. Hoch oben, am äußersten Rand der Klippe, steht ein graues steinernes Haus, das mit seinen Zinnen und dem runden Turm, der aufs Meer hinausschaut, entfernt an ein Spukschloss erinnert. Auf der Spitze
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