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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden
Autoren: Sherry Turkle
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Vorwort
Wendepunkte
    Als ich vor dreißig Jahren ans MIT ging, um Computerkultur zu studieren, war die Welt noch gewissermaßen unschuldig. Kinder spielten mit elektronischem Spielzeug »Drei gewinnt«, Videospielraketen sprengten heranrasende Asteroiden, und »intelligente« Computerprogramme konnten bei einer Schachpartie mithalten. Fans der Informationstechnologie legten sich die ersten Heimcomputer zu. Leute, die sich einen Computer kauften oder selbst bauten, experimentierten mit selbstgeschriebenen Programmen und entwickelten einfache eigene Computerspiele. Niemand wusste, für welche anderen Zwecke Heimcomputer künftig verwendet werden könnten. Auf dem noch jungen Feld der Künstlichen Intelligenz waren die Fachleute begeistert von Programmen, die einfache Formen erkennen und Bauklötze verschieben konnten. KI-Experten debattierten, ob die Geräte der Zukunft ihre Intelligenz einprogrammiert bekommen würden oder ob sie sich aus einfachen, in die Hardware eingeschriebenen Instruktionen von selbst entwickeln würde, so wie Neurobiologen momentan davon ausgehen, dass Intelligenz und die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken, aus dem relativ schlichten Aufbau und der Aktivität des menschlichen Hirns hervorgehen.
    Nun war ich mitten unter diesen Computer-Menschen und fühlte mich, wie jeder Anthropologe, ein bisschen wie ein Fremder in einem fremden Land. Ich hatte gerade mehrere Jahre in Paris studiert und miterlebt, wie sich die Sprache der Psychoanalyse mehr und mehr im Alltag ausbreitete. Die Franzosen entdeckten die neue
Sprache des Nachdenkens über das Ich und probierten sie aus. Ich war ans MIT gegangen, weil ich spürte, dass mit der Computersprache etwas Ähnliches geschah. Zum ersten Mal wurden computerbezogene Begriffe wie »Fehlerbeseitigung« und »Programmierung« verwendet, wenn man über Politik, Bildung, das gesellschaftliche Leben und – am bedeutsamsten für die Analogie mit der Psychoanalyse  – über das Ich nachsann. Während meine Technikerkollegen damit beschäftigt waren, ihre Computer immer raffiniertere Dinge tun zu lassen, ging mir anderes durch den Kopf. Wie veränderte der Computer uns als Menschen? Meine Kollegen widersprachen mir oft und beharrten darauf, dass ein Computer doch »nur ein Werkzeug« sei. Ich aber war mir sicher, dass das Wörtchen »nur« trügerisch war. Wir werden von unseren Werkzeugen geformt. Und nun veränderte und formte uns der Computer, eine Maschine, die kurz vor der Erlangung spezifischer Intelligenz stand.
    Als psychoanalytisch geschulte Psychologin wollte ich das erkunden, was ich als »Innengeschichte der Technik« bezeichne. 1 Eine Innengeschichte zu entdecken erfordert genaues Hinhören – und zwar meistens nicht nur auf die Hauptgeschichte, die einem erzählt wird. Aus Randbemerkungen lässt sich vieles erfahren – Äußerungen, die gemacht werden, wenn die Befragung »offiziell« vorüber ist. Für meine Arbeit habe ich einen ethnografischen und klinischen Forschungsstil benutzt. Aber statt hunderte von Stunden in einfachen Hütten zu verbringen und den Erzählungen der Ureinwohner zu lauschen – so wie es der klassischen Arbeitsweise eines Anthropologen entspräche –, trieb ich mich in Computerwissenschafts-Abteilungen, in den Clubs der Computerfreaks und in den Computerwerkstätten der Highschools herum. Ich habe Wissenschaftler, Besitzer von Heimcomputern und Kinder befragt, aber vor allem habe ich darauf geachtet, wie sie sprachen und wie sie mit ihren neuen »denkenden« Maschinen umgingen.

    Ich erlebte, zu welch geistreichen Gesprächen Computer anregen können. Die Leute fragten sich, ob vielleicht auch der menschliche Verstand nur eine programmierte Maschine sei. Was, wenn der Verstand ein Programm ist? Ist dann auch der freie Wille vielleicht nur Einbildung? Am bemerkenswertesten war, dass diese Gespräche sich nicht nur in Seminarräumen zutrugen. Sie fanden auch an Küchentischen und in Kinderzimmern statt. Computer brachten die Philosophie ins Alltagsleben; noch bemerkenswerter war, dass sie Kinder in Philosophen verwandelten. In Gegenwart ihrer einfachen elektronischen Spielsachen fragten sich Kinder, ob Computer lebendig seien, ob sie auf eine andere Art dächten als Menschen und was denn, im Zeitalter der klugen Maschinen, so besonders daran sei, ein Mensch zu sein.
    Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre wurden wir erstmals mit Maschinen konfrontiert, die unser Denken über menschliche Denkprozesse,
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