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Altstadtfest

Altstadtfest

Titel: Altstadtfest
Autoren: Marcus Imbsweiler
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PROLOG
    Als dieser Verrückte auf dem Uniplatz um sich ballerte, stand mit einem Schlag das öffentliche Leben still. Die Würstchenbräter erstarrten hinter ihren Rosten, die Zuckerwatteverkäufer hielten im Zuckerwatteverkaufen inne, die Biertrinker setzten ihre Plastikbecher ab, und die guten Bekannten, die man nicht hatte treffen wollen, stoppten ihren Redefluss mitten in der Silbe. Auch die Musik verstummte. Drüben, auf der Bühne vor der Neuen Aula, blieben der Sängerin einer Volksmusikgruppe die Töne im Hals stecken. Die Gruppe nannte sich die Fidelen Odenthäler, und nie war ihr Name so unpassend wie in diesem Moment. Mitten unter ihnen stand der Attentäter, MP im Anschlag.
    Ohne Musik keine Sicherheit. Als sie aussetzte, brach den Feiernden eine Stütze weg, eine Wand, an die sie sich, ohne es zu merken, gelehnt hatten. Statt ihrer breitete sich Stille aus: die Druckwelle einer tonlosen Explosion. Eine Sekunde lang war kein Laut zu hören. Ringsum sahen sich die Leute betroffen an. Waren das nicht Schüsse, die gerade …?
    Ja, es waren Schüsse, und vor allen anderen hatten die Spatzen und Tauben des Uniplatzes ihre Botschaft verstanden. Mit dem Einsetzen der Salve stoben sie in die Höhe, über die Baumkronen, die Dächer der Altstadt, waren längst in die Dämmerung geflattert, als unter ihnen das Chaos losbrach.
    War es so?
    Beschwören kann ich es nicht, schließlich glänzte ich an diesem Abend durch Abwesenheit. Aber es gab Berichte, Interviews, Erzählungen, ich sprach mit Menschen, die vor Ort gewesen waren, und am Ende bekam ich sogar eine Filmvorführung, die mich mittelbar zum Augenzeugen des Anschlags machte. Für die Opfer spielte der exakte Ablauf im Übrigen keine Rolle, ihnen war egal, wer wo gestanden, eine Weinschorle gekippt oder eine Wurstsemmel in der Hand gehalten hatte. Jeder Besucher des Heidelberger Herbstes hatte seine eigene Version zu berichten, hatte sein persönliches Attentat erlebt. Es gab Hunderte Geschichten, die sich widersprachen, die von hundert verschiedenen Attentaten erzählten, und alle stimmten sie. Also lassen wir die Würstchenbräter und Zuckerwatteverkäufer an ihrem Ort, auch wenn ich gar nicht weiß, ob beim Heidelberger Herbst Zuckerwatte verkauft wird, und lassen wir das Chaos nach der Stille so losbrechen, wie es immer losbricht: Wir hören die Schreie, diese schrillen, der Todesangst geschuldeten Tierlaute, wir sehen Fluchtbewegungen, weg von der Konzertbühne, rennende, stolpernde, stoßende Menschenmassen, vielköpfige Hilflosigkeit, nackte Panik. Während die Hysterie auf den gesamten Uniplatz übergreift, bleiben auf dem Kopfsteinpflaster vor der Bühne menschliche Leiber liegen, manche reglos, andere zuckend, sich aufbäumend, man krümmt sich, hält sich den Bauch, den Kopf, wimmert, stöhnt, jault. Den Verletzten wird geholfen, aber nicht sofort, nicht in der Minute nach den Schüssen. Auch die Solidarität gehört zu den Opfern des Anschlags. Kinder werden von ihren Vätern aus dem Weg gestoßen, auf einer älteren Dame trampelt man herum, ein Mann bekommt Gulaschsuppe ins Gesicht geschüttet. Nicht zu reden von den Menschen, die sich aus Panik übergeben, denen die Angst in den Darm und von dort in die Unterwäsche schießt, die plötzlich riechen, wie sie noch nie gerochen haben. Nicht zu reden von dem verwirrten alten Herrn, der auf einen Baum klettert und spät in der Nacht von der Feuerwehr in Sicherheit gebracht wird; nicht zu reden von dem Mädchen, das nach seiner Mutter ruft, immer wieder, auch am nächsten Tag noch, nach der Mutter, die vor Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist.
    Niemand war auf eine Tragödie dieses Ausmaßes vorbereitet. Höchstens die Wirte. In der Viertelstunde nach dem Anschlag wurde nicht ein einziges Bier auf dem Uniplatz verkauft. In der übernächsten Viertelstunde allerdings mehr als in sämtlichen Viertelstunden zuvor.
    So ungefähr wird es gewesen sein, an diesem Abend auf dem Heidelberger Universitätsplatz, auch wenn ich persönlich nicht anwesend war. Auf dem Pflaster vor der Bühne lagen vier Tote und ein Dutzend Verletzte. ›Blutiger Herbst‹, schrie es eine Sonderausgabe der Neckar-Nachrichten noch in derselben Nacht in die Welt hinaus, bevor die Sonntagszeitungen am nächsten Morgen sekundierten: ›Das Attentat von Heidelberg‹ – ›Amok auf dem Uniplatz‹ – ›Massaker in der Idylle‹. Auch bei der Bild-Zeitung ließ man sich nicht lumpen und widmete dem Vierfachmord die
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