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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland
Autoren: Beate Sommer
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Prolog
    Sie hatte es verdient, zu sterben, und dieses Mal würde es kein Entrinnen geben. Sie war zehn Jahre alt und vom Moment ihrer Geburt an unerträglich gewesen. Erst das Geplärre, tage- und nächtelang und vollkommen grundlos. Er war so unendlich müde gewesen damals. Ständig drohten ihm die Augen zuzufallen. Er hatte sich auf nichts konzentrieren können und war in der Schule total abgesackt. Dabei hatte er zuvor als hochbegabt gegolten. Das war seinen Eltern egal gewesen, sie hatten sich darauf berufen, ihm eine normale Kindheit ermöglichen zu wollen. Eine Ausrede. Denn die unnormale Version hätte bedeutet, viel unterwegs zu sein: all die Tests, die Wettbewerbe, die besonderen Angebote. Er hatte sich so darauf gefreut. Zu früh gefreut. Sie hatten keine Zeit für ihn. Nichts, was er tat, war mehr wichtig gewesen.
    Dann begann sie zu krabbeln, sich an allem, was ihre Patschhände nur erreichen konnten, hochzuziehen. Und abzuräumen. Alles. Bücher, Teller und Tassen, Papiere, egal. Sie zerrte jede Schublade heraus, sofern sie nicht abgeschlossen und der Schlüssel außer Reichweite war. Seltsamerweise landeten sie immer haarscharf neben ihr. Selbst seine Steinsammlung verursachte nicht die kleinste Beule. Sie zog an jedem Kabel, bis sie es in Händen hielt, und knabberte dann am Stecker. Er fragte sich, warum sie nie in die Steckdosen griff. Obwohl er ihr gesagt hatte, dass sie das auf keinen Fall tun dürfe. Normalerweise war das die sicherste Methode, zu erreichen, dass sie etwas tat: Man musste es bloß verbieten.
    Als sie zu sprechen begann, früh, früher als er selbst, wurde sie noch nervtötender, gab den Papagei, der jedes, wirklich jedes Wort nachplapperte. Wie süß, hieß es immer, sieh nur, wie sie dich bewundert. Das stimmte nicht. Ihre wahre Persönlichkeit trat zutage, als sie begriff, was sie sagte, als sie verstand, was Worte anrichten konnten. Da wurde sie zur gemeinen Petze. Kein noch so gut gehütetes Geheimnis war vor ihr sicher. Schloss und Riegel, Verstecke, die er für unauffindbar hielt – sie überwand jedes Hindernis. Sie spionierte ihm nach, ohne dass er sie je dabei erwischt hätte. Und selbst seine Gedanken schienen wie ein offenes Buch für sie. Wenn sie wenigstens die Klappe gehalten hätte, aber nein, sie ließ den Rest der Welt an ihren Erkenntnissen brühwarm teilhaben.
    Er hatte sich nicht vorstellen können, dass es noch schlimmer kommen konnte. Nämlich als sie aufhörte, über ihn zu sprechen. Und anfing, ihn zu erpressen. Und jetzt war Schluss damit.
    Er verließ sein Zimmer wie ein ganz normaler Mensch, nicht verstohlen und möglichst leise, denn das hatte nie geholfen. Sie fragte nicht, wo er hinwollte, aber er hörte ihre Zimmertür leise knarren und wusste, es würde funktionieren. Er lief die Treppe hinunter, stieg in seine Stiefel und zog den Parka an, die Handschuhe, warf sich die zusammengebundenen Schlittschuhe über die Schulter, dass die Kufen knallten, um nur ja keine Zweifel aufkommen zu lassen, wohin er wollte. Sie zog, deutlich hörbar, scharf den Atem ein. Das war nicht der Wind, er war sich sicher.
    Der kleine See war nicht weit entfernt. Die Umzäunung hatte er schon vor Tagen durchtrennt, von Weitem nicht sichtbar. Er bog die Enden auseinander und kroch durch die Öffnung. Hockte sich hin und zog die Schlittschuhe an. Betrat das Eis und begann zu laufen, ein Kreis, eine Acht, rückwärts, vorwärts, eine langsame Pirouette. Er hatte eigens für diesen Moment geübt, es sollte vergnüglich wirken und unwiderstehlich.
    »Da ist ein Loch im Zaun«, sagte sie.
    »Natürlich.«
    »Das ist verboten.«
    »Aber es macht Spaß«, erklärte er und kreuzte die Beine, fuhr weiter, während sie sich mit ihren Schlittschuhen abmühte, beachtete sie nicht, bis sie, um einiges anmutiger als er selbst, ihm hinterherlief, die Wangen rot vor Aufregung, und ihr blondes Haar flatterte im Wind.
    Er ergriff ihre Hände, und sie tanzten einen wilden, unbeherrschten Tanz, immer im Kreis herum, dass ihn schwindelte, und sie lachte laut auf, juchzte, als er sie fliegen ließ, und wieder herunter, noch einmal in die Luft, noch einmal schweben, und dann traf er die richtige Stelle. Er hörte, wie das Eis krachte, sah, wie ihr Lachen sich erst in Erstaunen und dann in Entsetzen wandelte, bevor sie unterging. Er legte sich flach aufs Eis, richtig, sie tauchte noch einmal nach Luft schnappend auf. »Hilfe!«, rief er und hoffte, dass jemand ihn hören würde, ihn sehen sogar,
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