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Altstadtfest

Altstadtfest

Titel: Altstadtfest
Autoren: Marcus Imbsweiler
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hatte Zutrittsverbot im Englischen Jäger.
    Auch für den Heidelberger Herbst galt das. Nicht mit uns, liebe Stadtverwaltung! Wer hatte schon Lust, sich Schulter an Schulter mit Pfingstochsen aus dem Kraichgau und aufgehübschten Odenwaldstuten durch die Hauptstraße zu drücken? Um jeden Bierstand zog sich eine Wagenburg von Menschen, und das Bier war teuer. Dreimal so teuer wie im Englischen Jäger. Am Kornmarkt spielten sie Mittelalter, vom Rathausbalkon grüßte der Zwerg Perkeo. Winke winke. Auf den Ehrenplätzen neben dem Herkulesbrunnen schunkelte die Politprominenz. Die restlichen 10.000 Besucher hatten keine Sitzplätze, sie standen immer gerade dort, wo sie die Masse hinschob. Bei Tiefdruck wurde der Sauerstoff knapp, es gab reihenweise Kreislaufzusammenbrüche, aber man fiel wenigstens nicht um. Am Montag konnte man im Lokalteil der Neckar-Nachrichten lesen, die Stimmung sei wieder mal grandios gewesen beim Heidelberger Herbst. Ich brauchte das nicht. Wenn ich in Stimmung kommen wollte, schaltete ich zu Hause das Radio ein. Oder aus, je nachdem.
    Außerdem war auch die Stimmung eine Sache der Stadtverwaltung. Punkt elf machten alle Buden dicht, die Bierfässer wurden weggerollt und die Musik abgedreht. So stand es in der Festverordnung. Wer dann noch schunkelte, bekam ein Knöllchen. Um fünf nach elf paradierte die Stadtreinigung durch die sich leerenden Straßen. Normalerweise.
    Bloß an diesem Samstag war alles anders.
    »Was?«, brüllte mein Freund Fatty in den Telefonhörer, dass die Widerstände ächzten. »Du weißt nichts davon? Es ist Sonntagmorgen neun Uhr, und du hast nichts von dem Amoklauf gehört?«
    »Welcher Amoklauf? Hast du zu lange ferngesehen?«
    »Max, wach auf! Das hier ist die Realität, 21. Jahrhundert, verstehst du? Gestern Abend hat es ein Massaker auf dem Uniplatz gegeben, einen Amoklauf mit zig Opfern.«
    Das Telefon am Ohr, trat ich ans Schlafzimmerfenster, zog den Vorhang beiseite und öffnete es. Die Sonne spielte auf den Dächern, Vögel sangen, das Viertel dämmerte vor sich hin. »Im Ernst?«, fragte ich vorsichtig. Man wusste nie, zu welchen Scherzen ein Friedhelm Sawatzki aufgelegt war.
    »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Verdammt, du musst doch davon gehört haben! Es ist über zwölf Stunden her.«
    »Ich war bei Maria. Wir hatten wichtige Probleme zu lösen. Die letzten Welträtsel sozusagen.«
    »Das hätte ich mir denken können. Und Radio hörst du gar nicht mehr?«
    »Nicht um diese Zeit. Außerdem habe ich doch dich.«
    »Ich fasse es nicht«, stöhnte Fatty. »Wenn sie demnächst dein Nachbarhaus abreißen, kriegst du wenigstens das mit?«
    »Nun erzähl schon. Was genau ist gestern passiert?«
    Diese Worte wurden zum Schleusenöffner: für einen Katarakt von Bericht. Fatty malte das Attentat in all seinen düsteren Schattierungen aus: von der ausgelassenen Atmosphäre auf dem Uniplatz über das plötzliche Erscheinen des Schützen bis zur Panik danach. Dass er dazu neigte, sich in Erlebnisse anderer hineinzusteigern, wusste ich. Die Intensität jedoch, mit der er es an diesem Morgen tat, war neu. Da wurde jedes Detail beschrieben, jede Szene in ihre Einzelteile zerlegt. Fatty versetzte sich in die Beteiligten, litt und hoffte mit ihnen, lag selbst auf dem Kopfsteinpflaster, wurde gestoßen, getreten, kroch davon, rappelte sich auf, suchte Schutz hinter einer Platane, heulte, bekam Schüttelfrost.
    Endlich schwieg er erschöpft.
    »Wann hast du davon erfahren?«, wollte ich wissen.
    »Gleich am Abend, gegen neun. Ich war bei Eva, als sich deren beste Freundin meldete. Vom Uniplatz.«
    Natürlich, das erklärte einiges. Wenn Evas beste Freundin den Heidelberger Herbst besuchte, hätte genauso gut Eva ihn besuchen können. Oder Fatty selbst. Plötzlich waren die Schüsse ganz nahe. Plötzlich zischten sie nur um Haaresbreite an einem vorbei. Es sei denn, man saß im Englischen Jäger und scherte sich einen feuchten Dreck um den Rest der Welt.
    »Und? Ist sie verletzt? Ich meine diese Freundin von Eva.«
    »Nein, nein. Stand halt unter Schock, die Arme. Eva war auch ziemlich mitgenommen. Das musst du dir mal überlegen: ein Massaker mitten in Heidelberg!«
    »Massaker? Ein großes Wort, Fatty.«
    »Hast du ein besseres? Wie nennt man das, wenn ein Irrer mitten im Konzert ins Publikum feuert, einfach so, ohne Sinn und Verstand?«
    »Amok nennt man das. Oder gibt es einen Bekennerbrief, eine Meldung im Internet?«
    »Bisher nicht. Und wenn du mich fragst, wird es
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