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Altstadtfest

Altstadtfest

Titel: Altstadtfest
Autoren: Marcus Imbsweiler
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das auch nicht geben. Das war ein Verrückter, ein durchgeknallter Militarist. Wie in den USA oder in Finnland.«
    »Oder in Winnenden. Hat man ihn schon gefunden?«
    »Wie, gefunden?«
    »Tot. Erschossen, von eigener Hand gerichtet. So enden sie doch alle, diese Amokläufer. Die wissen genau, was sie tun, und deshalb heben sie die letzte Kugel für sich selbst auf. In der Regel flüchten sie ja nicht einmal.«
    »Der schon. Evas Freundin sagt, so schnell, wie er auftauchte, so schnell war er auch wieder verschwunden.«
    »Dann wird man demnächst in irgendeiner trostlosen Bude eine Leiche finden, männlich, jung, kontaktscheu, unauffällig, und die fassungslosen Nachbarn werden sagen, das hätten sie nie vermutet, er war doch so ein harmloser Junge. Neben der Leiche ein Abschiedsbrief, im Zimmer ein Regal voll Gewaltvideos, ein Waffenarsenal, eine erschossene Dogge und die gesammelten Schriften eines Weltuntergangspropheten.«
    »Hör auf, bitte!«, stöhnte Fatty.
    »Und, nicht zu vergessen: eine Botschaft an alle Nachahmer im Internet.«
    »Nachahmer? Sag nicht so was!«
    »Wusstest du, woher der Begriff Amok stammt? Aus irgendeiner entlegenen Sprache, malaiisch oder mikronesisch, glaube ich. Von wegen Südseeparadies!«
    »Trotzdem, wenn man das hört, wäre man lieber auf einer Insel. Weit weg von hier.«
    »Auf der Insel der Seligen.«
    »Warum nicht?«
    Wir schwiegen. Die Insel der Seligen. War das nicht unsere Hausadresse gewesen? Weltweit stand eine Stadt wie Heidelberg für die Illusion, das Verbrechen sei abgeschafft. Oder ein Gegenstand universitärer Forschung. Terrorismus gab es nur im Fernsehen, und Amok war eine Erfindung der Südsee. Irgendein Linguist hatte bestimmt seine Magisterarbeit darüber verfasst. Solange uns keine Kokosnuss auf den Kopf fiel, konnte uns nichts passieren. Dachten wir. Nun war die Insel geentert worden, gekapert, über Nacht abgetrieben. In fremde Gewässer. Und wir? Suchten nach Erklärungen.
    »Ein gezielter Anschlag war es nicht?«, fragte ich.
    »Wo denkst du hin? Der Kerl feuerte wahllos in die Menge. In die erste Reihe vor der Bühne. Magazin leer, Rückzug. Evas Freundin hat es genau gesehen, wie tausend andere Besucher auch.«
    »Wahnsinn.«
    »Du sagst es. Da traut man sich kaum noch auf die Straße. Wie soll ich das morgen meinen Kleinen erzählen?«
    Gute Frage. Ich war der Letzte, der eine Antwort darauf wusste. Wie erklärte man einem Vierjährigen, dass die Welt und das Verbrechen zusammengehörten? Pass auf, Kleiner, es gibt gute Menschen und böse Menschen. Die guten, das sind wir, die bösen die anderen. Reichte das? Für so einen Knirps waren wir zunächst einmal Erwachsene, wir alle. Wir schimpften mit ihm, wenn er die Ellbogen auf den Tisch legte oder zu viele Gummibärchen aß, anschließend kauften wir Waffen und schossen uns gegenseitig tot. Führten Kriege, ließen andere Kinder verhungern. Schöne Vorbilder waren wir! Und am Ende sollten es Erzieher wie Fatty wieder richten.
    »Das kriegst du schon hin«, sagte ich. Es war ein alberner Satz, und doch meinte ich ihn ernst. Wenn es Fatty nicht gelang, den Kleinen Fröhlichkeit zu vermitteln, gelang es keinem.
    »So einen Anschlag kannst du nicht verheimlichen«, sagte er düster. »Nicht in der heutigen Zeit. Ich sehe meine Zwerge schon vor mir, wie sie auf den Tisch klettern und die Szene nachspielen. Und da lass dir mal eine gescheite Reaktion einfallen.«
    »Sehen wir uns heute?«
    »Ich bin mit Eva unterwegs. Verwandtschaftsbesuch. Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen: dass der Kaffeeklatsch mit ihrer Tante nur das zweitschlimmste Ereignis des Wochenendes sein würde.«
    Nach dem Ende unseres Telefonats blieb ich noch einen Moment im Bett liegen. Ich versuchte, mich an den gestrigen Abend zu erinnern, an das, was wir zwischen acht und neun Uhr gesagt und getan hatten. Sinnfreies Zeug natürlich, wie immer. Mir fielen Leanders Worte ein, als er von den Lichtern und dem Aufruhr draußen berichtete. Beziehungsweise nicht berichtete. So nahe waren wir den tödlichen Schüssen gewesen. So nahe und so fern. Kein Gedanke daran, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte.
    Oder doch? Im Englischen Jäger wurden gerne martialische Reden geschwungen. Auch am gestrigen Abend, an dem es um Fußball ging. Ich erinnerte mich an einen hageren Kerl, dessen linkes Augenlid beim Sprechen zuckte. Sport sei die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, und Fußball sowieso. In Hoffenheim vielleicht
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