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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition)
Autoren: Elly Griffiths
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nicht im eigentlichen Sinn eine Freundin, aber sie ist auch keine Studentin oder Unikollegin. Einmal hat Ruth mitbekommen, wie eine andere Mutter – Sandra betreut noch zwei weitere Kinder – in der Küche mit Sandra plauderte. Es ging um ihren Mann, der ja so unordentlich sei, und um ihre anderen Kinder, die keine Hausaufgaben machen wollten und sich weigerten, Gemüse zu essen, und es klang alles so nett und freundlich, dass Ruth am liebsten mitgeplaudert hätte. Aber sie hat nun mal keinen Mann und keine anderen Kinder. Und ihre Arbeit als forensische Archäologin mit Spezialisierung auf uralte Knochen eignet sich auch nicht gerade für ein gemütliches Plauderstündchen in der Küche.
    Als die vier Monate alte Kate ihre Mutter sieht, fängt sie an zu brüllen.
    «Das ist ganz normal», meint Sandra. «Das ist nur die Erleichterung, dass Mama wieder da ist.»
    Ruth kann in dem Gebrüll allerdings nur wenig Erleichterung oder auch nur Zuneigung ausmachen, während sie versucht, Kate in ihren Kindersitz zu verfrachten. Für sie klingt es einfach nur stinksauer.
    Bei ihrer Geburt war Kate groß, eher lang als schwer. «Ist Ihr Mann sehr groß?», hat die Hebamme sich erkundigt, als sie Ruth das rotgesichtige Bündel in den Arm legte. Die Antwort auf diese Frage blieb Ruth erspart, weil in dem Moment ihre Eltern eintrafen, direkt aus Eltham, mit Blumen und einem Exemplar Meine ersten Bibelgeschichten im Gepäck. Eigentlich hätte Ruths Mutter bei der Geburt dabei sein sollen, doch dann haben die Wehen während einer Halloween-Party bei Ruths gutem Freund und Teilzeit-Druiden Cathbad eingesetzt.
    Cathbad brachte Ruth ins Krankenhaus, noch in den weißen Gewändern, die er zu Ehren der guten Geister angelegt hatte. «Beim ersten Kind dauert es immer ewig», versicherte er ihr. «Woher willst du das denn wissen?», schrie Ruth unter Schmerzen, die ihr ebenso unerträglich wie endlos vorkamen. «Ich habe immerhin eine Tochter», erklärte Cathbad würdevoll. «Aber die hast nicht du geboren», brüllte Ruth, «sondern deine Freundin!» Doch Cathbad schenkte ihrem Brüllen, ihren Flüchen und den Beteuerungen, dass sie alle Männer hasse und ihn ganz besonders, keine Beachtung. Er bewarf sie mit ein paar Kräutern, umrundete das Bett und murmelte Zaubersprüche, und schließlich beschränkte er sich darauf, einfach ihre Hand zu halten.
    «Das dauert noch Stunden», verkündete die Hebamme fröhlich. Doch dann kam Kate genau zehn Minuten nach Mitternacht zur Welt, ersparte sich Halloween und war dafür pünktlich zu Allerheiligen.
    «Ich halte ja nichts von diesem katholischen Schnickschnack», meinte ihre Mutter, als Ruth ihr das erzählte. Ruths Eltern sind Wiedererweckte Christen und der festen Überzeugung, dass unter allen Glaubensrichtungen sie allein die Wahrheit kennen – eine Illusion, die sie, wie Ruth ihnen leicht beweisen könnte, mit sämtlichen anderen Religionen teilen, schon seit der Zeit, als die Assyrer erstmals anfingen, ihren Vorfahren Tongefäße mit ins Grab zu geben, für alle Fälle.
    Als Ruth das verkniffene Gesichtchen ihrer Tochter betrachtete, war sie überrascht von dem spontanen Gefühl, sie bereits zu kennen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht. In den Büchern stand etwas von Mutterliebe, von Euphorie und Freude und spontanem Milcheinschuss. Doch Ruth war viel zu erschöpft, um euphorisch zu sein. Sie war sich in dem Moment nicht einmal sicher, ob das, was sie empfand, Liebe war. Sie spürte nur, dass sie ihr Baby kannte: Das war kein Fremdling, das war ihre Tochter. Dieses Gefühl trug sie über die Qualen des Stillens, das absolut nichts mit den idyllischen Schilderungen der Bücher gemeinsam hatte, über die Einsamkeit, die sie sofort überwältigte, sobald ihre Eltern aus der Tür waren, und durch die schlaflosen Nächte und die zombiehaften Tage, die darauf folgten. Sie kannte ihr Baby. Sie saßen gemeinsam im selben Boot.
    Ruths Mutter war erfreut über die Namenswahl: «Ach, die Abkürzung von Catherine, nach deiner Tante Catherine aus Thornton Heath.» – «Das ist aber keine Abkürzung», erwiderte Ruth und musste bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal feststellen, dass die Leute ihr plötzlich nicht mehr richtig zuhörten, wenn sie etwas sagte. Das war ein Schock für Ruth – schließlich war sie ihr ganzes Arbeitsleben lang Universitätsdozentin gewesen; Menschen zahlten dafür, ihr zuzuhören. Aber wenn sie jetzt nicht gerade über das
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