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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition)
Autoren: Elly Griffiths
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an die Flasche zu gewöhnen. Das entpuppte sich als derart mühevolle und emotional fordernde Aufgabe, dass es Ruths neugewonnene Entschlossenheit noch einmal auf eine harte Probe stellte. Aber sie hielt durch, und Anfang März war sie wieder im Dienst.

    Ruth hört schon seit Jahren mit Begeisterung die Sendung Woman’s Hour , doch sie begreift erst jetzt, warum dort immer so viele Beiträge über das «tägliche Jonglieren» kommen und über die aussichtslosen Bemühungen, «alles» zu haben. Mit ein bisschen Einsatz war es durchaus machbar, ein funktionierendes Betreuungssystem einzurichten. Die emotionalen Auswirkungen hatte Ruth allerdings nicht einkalkuliert. Sie fühlte sich schrecklich schlecht, weil sie Kate im Stich ließ, aber als sie zum ersten Mal wieder ihr Büro betrat, ihr eigenes Büro mit ihrem Namen an der Tür, war sie so erleichtert, dass sie beinahe losgeheult hätte, obwohl sie, insgesamt gesehen, nicht zu Tränen neigt. Wenn sie Kate einmal zu spät abholt, kommt sie sich vor, als hätte sie sich sämtlicher Verbrechen an der Menschheit schuldig gemacht. Sie sehnt sich danach, ihr Baby wieder bei sich zu haben, aber wenn sie es dann hat, überfällt sie eine Art Panik. Wird sie da jemals wieder rauskommen? Oder sitzt sie jetzt für immer in der Mama-Falle?
    Sie parkt ihre klapprige Rostlaube vor dem Haus. Der Bewegungsmelder springt an und taucht den verwilderten Garten und das umliegende, vom Wind niedergedrückte Gestrüpp in helles Licht. Kate ist inzwischen eingeschlafen, und Ruth ist froh darüber, auch wenn es bedeutet, dass sie wahrscheinlich vor Mitternacht nicht noch einmal einschläft. Sie trägt den Kindersitz samt Baby ins Haus und stellt ihn mitten ins Wohnzimmer auf den Boden. Flint kommt heran und schnuppert an Kates Gesicht, und Ruth hebt ihn hoch und trägt ihn weg. Ihre Mutter hat zahllose Geschichten von Katzen auf Lager, die sich auf Säuglinge gesetzt und sie erstickt haben, doch Flint legt bisher nur eine gleichbleibend distanzierte Freundlichkeit an den Tag, und Ruth hält zu große Stücke auf ihn, um ihm finstere Motive zu unterstellen. Sie gibt ihm zu fressen, dann macht sie sich einen Tee und einen Toast und freut sich auf eine Stunde Ruhe.
    Kaum hat sie sich hingesetzt, klingelt das Telefon. Es ist Nelson.
    «Hallo. Wie geht’s dir?»
    «Gut. Von wo rufst du an? Bist du wieder da?»
    Freudloses Lachen am anderen Ende. «Nein, nein, ich bin noch hier auf diesem mistigen Lanzarote und muss mir anhören, was der größte Langweiler der Welt über Festplatten zu erzählen hat.»
    «Klingt doch lustig.»
    «Du machst dir keinen Begriff.»
    Einen Moment lang herrscht kostspielige Ferngesprächsstille.
    «Wie geht’s Katie?»
    «Sie heißt Kate.»
    Ein ungeduldiges Brummen. «Geht’s ihr gut?»
    «Bestens. Sie schläft gerade.» Von ihrem Platz aus kann Ruth sehen, wie sich Kates kleiner Brustkorb hebt und senkt. Inzwischen sieht sie nicht mehr alle zehn Minuten nach, ob ihre Tochter noch atmet, aber doch noch jede Stunde.
    «Und die Tagesmutter? Läuft es gut mit ihr?»
    «Mein Gott, du hast sie doch sogar polizeilich überprüft. Zwei Mal.»
    «Bei so einer Überprüfung findet man nie alles.»
    «Es läuft sehr gut. Sie ist weder eine Mörderin noch eine Kinderschänderin. Alles bestens.»
    Wieder entsteht eine Pause, während sie beide an Menschen zurückdenken, die am Ende nicht waren, was sie zu sein schienen. Ruth hat der Polizei bei den Ermittlungen in zwei Mordfällen geholfen, und beide Male ging es um Kinder.
    «Morgen komme ich wieder nach Hause.»
    Doch Ruth weiß, dass «nach Hause» nicht zu ihr nach Hause heißt.
    «Es ist ziemlich kalt in Norfolk», meint sie, wie um ihm einen Dämpfer zu versetzen.
    «Sag bloß. Es ist doch immer kalt in diesem beschissenen Norfolk.»
    Er legt auf, und Ruth bleibt auf dem Sofa sitzen und hängt komplizierten und unangenehmen Gedanken nach. Als kurze Zeit später Trace anruft und ihr erzählt, dass sie in Broughton Sea’s End ein Massengrab gefunden hätten, ist sie fast erleichtert.

[zur Inhaltsübersicht]
    3
    Der nächste Tag ist ein Samstag, und Ruth geht mit Ted und Trace bei Ebbe den Strand von Broughton Sea’s End entlang. Kate ist den Vormittag über bei Sandra. «Überhaupt kein Problem», hat Sandra versichert, doch Ruth findet es trotzdem problematisch. Mit den Werktagen kann sie umgehen, so ist es ja vereinbart, aber Wochenenden laufen außer der Reihe, und Ruth hat einen Horror davor, andere Leute um
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