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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition)
Autoren: Elly Griffiths
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Gefälligkeiten zu bitten. Sie findet es schrecklich, irgendwo anzurufen und mit diesem ganz speziellen, schmeichlerischen Ton in der Stimme zu sagen: «Ich hätte da eine Bitte … Würden Sie vielleicht … Das ist meine Rettung … Sie sind ein Schatz!» Da spart sie sich den ganzen Schnickschnack lieber und erledigt die Sache selbst. Aber sie muss zunehmend feststellen, dass man als berufstätige Mutter nicht darum herumkommt, um Gefälligkeiten zu bitten. Entsprechend schlecht gelaunt stapft sie jetzt durch den Sand.
    Es ist ein trüber Morgen. Weiter landeinwärts hält sich der Nebel noch, doch so nah am Wasser ist die Luft kalt und klar. Der Weg ist anstrengend, er führt über Kiesbänke und Felsen voller winziger, scharfschaliger Miesmuscheln. Ted ist geradezu unanständig gut gelaunt, wenn man bedenkt, dass er noch nichts getrunken hat. Er weist auf ungewöhnliche Felsformationen hin, findet ein Stück Katzengold und eine vom Meer ganz glatt geschmirgelte Münze, wirft verirrte Krebse ins Wasser zurück und schreibt seinen Namen in den Sand. Trace hingegen schweigt und macht sich nur hin und wieder Notizen. Sosehr das Ruth auch auf die Nerven geht, sie ist doch froh, keinen Smalltalk machen zu müssen.
    Als sie die Landzunge erreichen, ragt Sea’s End House über ihnen auf, ein grauer Umriss vor dem grauen Himmel. Da der Nebel den Rest der Küste schluckt, sieht es aus, als triebe es auf dem Meer wie ein dem Untergang geweihter Dampfer, der mit gleißenden Lichtern auf den Eisberg zuhält.
    «Willkommen am Ende der Welt», sagt Ted ungebrochen fröhlich.
    Ruth schaut zu den Felsen hinauf. Der Stein wirkt weich und sandig und bröckelt an den Rändern, als hätte jemand daran herumgeknabbert. «Sandstein», sagt sie.
    «Genau», pflichtet Ted ihr bei. «Der ganze Küstenbereich hier besteht aus Sandstein. Darum ist die Erosion ja auch so weit fortgeschritten.»
    «Hier war mal ein Wellenbrecher», sagt Trace, «aber der ist schon seit Jahren verschwunden. Da drüben sieht man noch die Reste.»
    Sie schauen alle zum Meer, wo in knapp hundert Metern Entfernung zwei, drei größere Felsblöcke aus dem Wasser ragen wie riesige Trittsteine.
    «Das Dumme ist», sagt Ted, «dass die meisten der Schutzmauern noch von den Viktorianern gebaut wurden. Die Felsen dahinter waren einfach zu steil. Und als die Wellenbrecher weg waren, gab es keine Sandbänke mehr oder sonst irgendwas, was der Flut die Kraft genommen hätte.»
    «Da hätte man doch was machen können», meint Trace. «Vor fünfzig Jahren wäre noch Zeit genug gewesen.»
    Ted zuckt die Achseln. «Das ist halt der Klimawandel», sagt er mit vergnügtem Lächeln. «Weltweit steigt der Meeresspiegel, und wir können absolut nichts dagegen tun.»
    Ruth geht auf die Felswand zu. Sie sieht sofort, dass der Steinschlag noch nicht lange her sein kann: Steine und Geröll sind bis auf den Strand gefallen, und die Felsoberfläche ist von grauen und schwarzen Adern durchsetzt.
    «Hier drüben», sagt Ted.
    Im entlegensten, unzugänglichsten Winkel der ganzen Bucht befindet sich eine Spalte in der Felswand, ein schmaler Einschnitt, der direkt hinter dem struppigen Gras am Rand des Strandes anfängt. Obwohl er noch halb von Gesteinsbrocken verdeckt ist, sieht Ruth, dass ein Teil der Steine bereits entfernt wurde. Vorsichtig geht sie näher heran. «Sieh dir erst alles an», pflegte ihr Mentor, Erik Anderssen, immer zu sagen. «Sieh dir alles an, dokumentiere es und dann erst fang an zu graben. Den ersten Eindruck kannst du durch nichts ersetzen.» Ruth fotografiert die Felswand und das Geröll und skizziert eine Karte in ihrem Notizbuch. Anschließend räumt sie zusammen mit Ted die größeren Steine weg. In dem schmalen Spalt zwischen den beiden Felswänden ist der Sand teilweise abgetragen und gibt den Blick auf etwas frei, was zunächst fast aussieht wie weiteres Gestein, ganz glatt und weiß.
    Knochen.
    Ruth beugt sich vor. Auf den ersten Blick erkennt sie, dass es mehrere Tote sein müssen. Die Knochen liegen übereinander, doch sie sieht mindestens drei Oberschenkelknochen, lang und kräftig, was nahelegt, dass es sich um männliche Leichen handelt. Außerdem riecht es leicht nach faulen Eiern. Einen Moment lang wird Ruth ein wenig schwindelig, sie muss an andere Massengräber denken, an Knochen, von der Sonne gebleicht. Sie holt tief Luft. Sie muss den Fund einzeichnen, die genaue Lage der Knochen auf der Karte markieren. «Oft» – auch das stammt von Erik
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