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Die Narben der Hoelle

Die Narben der Hoelle

Titel: Die Narben der Hoelle
Autoren: H. Dieter Neumann
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1
September
Türkei
    Er geht über die Wellen. Sein Blick ist fest auf den Punkt am Horizont gerichtet, an dem die Sonne als glutroter Ball dicht über der See steht.
    Ganz leicht ist er, spürt sein eigenes Gewicht nicht, schwebt fast federgleich über das Wasser. Seine bloßen Füße fühlen die Säume der Wellen wie kleine Unebenheiten in einem warmen, weichen Teppich. Der Wellenteppich bewegt sich sanft, bringt ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Er zieht ihn in seinen gleichförmig wogenden Rhythmus, an den Fußsohlen beginnend, weiter durch den ganzen Körper und bis hinein in den Kopf. Der Rhythmus nimmt ihn ganz und gar in Besitz.
    Ewig wollte er so gehen. Der Feuerball am Horizont bewegt sich nicht, geht nicht unter, verharrt wie ein strahlendes Richtfeuer direkt am Rande der sichtbaren Welt. Der Himmel wölbt sich als Kuppel über ihm, stahlblau im Zentrum, zum Horizont hin weich in nebliges Grau übergehend …
    » … and switch off all electronic equipment until we have reached our final parking position « .
    In einer weiten Rechtskurve zog der Airbus A-321 im Sinkflug durch den wolkenlosen Himmel und begann seinen Endanflug auf den Flughafen von Izmir. Als er die Augen öffnete, konnte Johannes Clasen von seinem Platz am Fenster die Bucht vollständig überblicken. Unter der Tragfläche lag der riesige Hafen der Millionenstadt. Mächtige Containerschiffe, kastenförmige Autotransporter und Frachter jeder Größe in einer langen Kette wie auf einer Autobahn. Zwischen ihnen geschäftige Personenfähren und unzählige Fischerboote und Segelschiffe. Draußen die blaue Weite der Ägäis. Am Horizont die Nordspitze der großen Halbinsel Karaburun.
    Im Flugzeug war er von den Kopfschmerzen verschont geblieben, die ihn oft noch heimsuchten. Den Flug hatte er seit dem Start in Stuttgart fast vollständig verschlafen.
    Nun aber war er hellwach.
    Drei Wochen Freiheit warteten auf ihn. Warmer Wind und weiße Segel. Licht.
    Und vielleicht keine Angst.
    Geduldig schlurfte er in der schwitzenden Menschenschlange durch die Ankunftshalle. Endlich die Zollkabine, eine streng blickende Uniformierte, das Kärtchen mit dem Einreisestempel – geschafft!
    Er holte seine beiden Reisetaschen vom Gepäckband und trat aus dem Terminal hinüber in die Empfangshalle.
    Wildes Stimmengewirr, begleitet von türkischer Popmusik aus unzähligen Lautsprechern, schlug ihm entgegen, laute Rufe, Kindergeschrei. Herzzerreißende Begrüßungsszenen. Und mittendrin die Abgesandten von Dutzenden Reiseveranstaltern, die ihre Pappschilder hochhielten und fortgesetzt verheißungsvolle Hotelnamen brüllten.
    Johannes lächelte. Alles so wie immer. Herrliches levantinisches Chaos – wie hatte er sich darauf gefreut!
    Sein Blick fiel auf zwei junge Männer in bunten Hemden, die nur wenige Meter entfernt standen. Ein merkwürdiges Unbehagen beschlich ihn auf einmal. Ihm war, als hätten die beiden ihn schon begleitet, seit er aus dem Terminal gekommen war.
    Hatten sie ihn gerade angestarrt?
    Jetzt senkten sie ihre Blicke, betrachteten ein Stück Papier, das einer von ihnen in der Hand hielt, und diskutierten miteinander.
    Johannes spürte plötzlich, dass seine Kehle ausgedörrt war. Er brauchte etwas zu trinken. Suchend sah er sich in der riesigen Halle um. Seine Körpergröße half ihm, mühelos über das Gewimmel hinwegzublicken.
    Da, ein Stück entfernt, war eine Saftbar, vielfarbig beleuchtet und von ein paar künstlichen Palmen umstanden. Sofort steuerte er zielstrebig auf die kleine Theke zu.
    Nun war er sich sicher: Die jungen Männer folgten ihm!
    Beide waren mittelgroß. Die Muskeln ihrer durchtrainierten Körper zeichneten sich unter den engen Hemden ab. Sie traten fast gleichzeitig neben ihm an den Tresen und unterhielten sich. Keine zwei Meter entfernt standen sie, doch der Lärmpegel in der Halle war so hoch, dass Johannes nicht einmal hören konnte, in welcher Sprache sie redeten. Einer von ihnen schickte einen verstohlenen Blick zu ihm herüber, wandte sich aber sofort wieder seinem Gefährten zu.
    Wahrscheinlich hatten sie es auf sein Gepäck abgesehen!
    Er blickte hinunter auf die beiden Reisetaschen, die vor seinen Füßen standen. Ein blitzartiger Griff, und sie wären mit den Taschen zwischen all den Menschen untergetaucht.
    Das war ihm zu riskant-erst mal nichts gegen den Durst …
    Er griff sein Gepäck, ging mit schnellen Schritten zum Ausgang und trat hinaus in die trockene Hitze des Septembernachmittags.
    Vorsichtig schaute
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