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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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PROLOG
Ein neues Kapitel
    Das Buch schwebte in der Finsternis. Es strahlte in sanftem rötlichen Licht. Aufgeschlagen hing es da im düsteren Raum. Der Einband war aus kupferfarbener Seide. Zwei Schlangen ringelten sich über den Stoff. Sie bissen sich gegenseitig in die Schwänze und bildeten so ein Oval, in dem die Worte DIE UNENDLICHE GESCHICHTE zu lesen waren. Ein Mann mit zerfurchtem Gesicht und hageren, faltigen Händen stand dort in der Dunkelheit und ließ einen Stift langsam und stetig über die Seiten wandern. Blaugrüne Tinte formte sich zu Buchstaben und Wörtern, die Wörter bildeten Sätze und die Sätze Geschichten. Der Schimmer der feuchten Tinte beleuchtete sein Gesicht. Die klaren Augen waren auf die Spitze des Stifts gerichtet, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt. In dem düsteren Raum war es ganz still, obwohl um die Behausung des Alten der heulende Sturmwind strich. Die Wände des riesenhaften Eis, in dem der Mann stand und schrieb, schluckten jedes Geräusch aus der Welt dort draußen. Die seltsame Behausung des Alten ruhte auf drei bläulichen Spitzen hoch oben auf dem eisig umwehten Plateau des Wandernden Berges. Niemals legte der Alte den Stift nieder, um etwa hinauszusehen, und noch niemals hatte er seinen Platz verlassen. Er schrieb und schrieb, ohne innezuhalten und ohne zu ermüden. Alles, was in Phantásien geschah, schrieb er auf, und was er aufschrieb, das geschah, denn das Buch, das er mit Worten füllte, war Phantásien, und Phantásien war das Buch, und selbst der Alte und das Buch waren in ihm aufgezeichnet.
    Wenn er das Ende einer Seite erreichte, hob der Alte langsam den Stift. Er wartete einen Augenblick, bis die Schrift getrocknet war, dann griff er mit der Linken nach der Ecke des Blatts. Ganz leicht schlossen sich Zeigefinger und Daumen, gerade nur so fest, dass er die Seite umschlagen konnte und ein neues, unbeschriebenes Blatt vor ihm lag. Er zögerte nicht, setzte den Stift wieder auf und fuhr mit seinen Aufzeichnungen fort.
    Die Worte erzählten von einem Mädchen mit langem, blauem Haar. Sorglos lebte es mit seiner Sippe in einem fruchtbaren Tal am Fuß der Nanuckberge, denn sie wusste noch nicht, was das Schicksal mit ihr vorhatte. Sie ahnte nicht, wie bald schon ihr gewohntes Leben voller Musik und Poesie zu Ende sein würde. Dann beschwor die Schrift die Gestalt eines jungen Jägers herauf, stolz und kraftvoll, mit der Zuversicht der Jugend, dass es ihm vergönnt sein werde, große Taten für sein Volk aus dem schwarzen Felsengebirge zu vollbringen. Voller Hoffnung machte er sich auf, die Mission zu erfüllen, zu der ihn der Rat seines Stammes ausgesandt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben verließ er die Hochtäler zwischen den schroff aufragenden schwarzen Gebirgsspitzen.
    Wieder blätterte der Alte um. Seine Gedanken verließen den Jäger und wanderten in ein grünes Land im Norden Phantásiens. Zwischen toten Kiefern stand eine trutzige Burg auf einem kahlen Hügel. Es dämmerte bereits. Düster schob sich der wehrhafte Bergfried aus alter Zeit in den Abendhimmel. Ein roter Mond erhob sich über dem Horizont. Bald folgte die silberne Sichel eines zweiten Mondes. Noch lag die Burg wie ausgestorben da, doch als Mitternacht nahte, regten sich Schatten. Sie krochen und flossen, schlichen und liefen auf das Burgtor zu. Es waren zottige Monster mit geifernden Rachen unter ihnen, andere Wesen erinnerten an große Spinnen mit langen, haarigen Beinen. Wieder andere krochen über den Boden wie Schlangen oder glitten auf zahllosen kurzen Beinchen dahin. Es gab große Wölfe und hyänengleiche Bestien mit säbelartigen Zähnen, doch auch Männer und Frauen waren dabei, so schien es im trüben Nachtlicht. Bei näherer Betrachtung glichen sie verwesten Leichen, die sich aus ihren Gräbern erhoben hatten. Boshaft funkelten gelbe und grüne Augen in der Nacht. Schweigend verharrten sie schließlich im Burghof. In den Städten und Dörfern des Landes hatte es gerade zur Mitternacht geläutet, da öffneten sich die Türflügel, die zur großen Halle des Palas führten, und der Herr von Tarî-Grôth trat auf die Treppe hinaus.
    Fast sieben Fuß groß ragte seine Gestalt auf. Schweigend stand er da, der dünne Körper von einem weiten, schwarzen Umhang verhüllt. Selbst die klauenartigen Hände blieben in den Ärmeln verborgen. Die Kapuze jedoch hatte er zurückgeworfen, so dass das Mondlicht sich in seinem silberweißen Haar verfing, das ihm bis auf den Rücken hinabhing. Die
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