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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe
Autoren: Katrin Tempel
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1.
    D er dünne, helle Stängel reckte sich aus der dunklen Erde dem Licht entgegen, drei Blättchen versorgten ihn mit der nötigen Energie. Noch vor wenigen Wochen hatte ich mich auf den Frühling gefreut und mir ausgemalt, wie ich irgendwann die sonnenwarmen Tomaten von dieser Pflanze essen würde. Jetzt wollte ich mir die nächsten Monate lieber nicht vorstellen. Nach diesem Start konnte das Jahr nur noch schrecklich werden.
    Mit einer kleinen Hacke lockerte ich die Erde im Frühbeet und bohrte dann mit dem Finger ein Loch, in dem die winzige Tomatenpflanze Wurzeln schlagen sollte. Vorsichtig setzte ich sie hinein, drückte die Erde ein bisschen fester und strich mit dem Zeigefinger sanft über ein Blättchen. Die Pflanzen sollten nicht leiden müssen, nur weil ich in diesem Augenblick die Zukunft rabenschwarz sah. Sie hatten sich aus den winzigen Samen hervorgekämpft und hatten ein Recht darauf, der Sonne entgegenzuwachsen.
    Während ich die nächste Pflanze in die Hand nahm, verschwamm alles vor meinen Augen. Und das wegen dieses Professors, der offenbar gar nicht verstanden hatte, worum es mir in meinem Vortrag gegangen war. »Liebe Frau Opitz, Ihr Referat entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Sie haben sich mit Alltagsfragen verzettelt und dabei das große politische Geschehen außer Acht gelassen. Dafür kann ich Ihnen leider keinen Schein ausstellen.«
    Mit Alltagsfragen verzettelt – was er damit meinte, war mir klar. Ihn, den Fachmann für die Zeit der Rosenkriege, interessierten natürlich nur die Stammbäume der Tudors und Lancasters oder Yorks, die Schlachten und Kriege. Was die einfachen Menschen der damaligen Zeit bewegte – dafür hatte er keinen Blick. Dabei hatten die damals ganz sicher nicht die Muße gehabt, auch nur eine Sekunde über das Weltgeschehen nachzudenken.
    Zornig strich ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Keine Ahnung hatte dieser Professor. Nur leider hing mein Fortkommen in Sachen Geschichtsstudium von ihm ab. Wenn er mir keinen Schein für mein Referat ausstellte – und zwar möglichst mit einer ordentlichen Note –, dann würde aus meinem geplanten Abschluss im kommenden Jahr nichts werden.
    Langsam fuhr ich mit der Hacke durch die Erde. Meine Tomaten würden keinen Tag früher oder später reifen, egal wie ich in diesem Augenblick die Erde bearbeitete. Das Geheimnis lag nicht in der Geschwindigkeit und der Kraft, sondern in der Liebe und der Sorgfalt. Dann wurde aus jedem Garten ein kleines Paradies.
    Wobei ich aus meinem persönlichen Paradies gerade vertrieben worden war. In meinen Gedanken verschwand das Gesicht des Professors. Stattdessen stellte ich mir Erik vor. Meinen Freund. Oder besser Exfreund? Oder vielleicht sogar nur »besten Freund«? An diesem Nachmittag hatte er mich mit ernstem Blick angesehen, war sich mit der Hand durch das raspelkurze Haar gefahren und hatte dann erklärt: »Weißt du was, ich brauche mehr Zeit für mein Studium. Mir ist schon zu viel Zeit verloren gegangen, das muss anders werden. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dich deswegen in den nächsten Wochen nicht mehr so oft sehen kann. Das siehst du doch ein, oder?«
    Was sollte ich dazu sagen? Ich gehöre keineswegs zu diesen besitzergreifenden Zicken, die glauben, man könne einen Menschen voll und ganz zu seinem Eigentum zählen. Aber Erik hatte sich noch nie auch nur eine einzige Sekunde auf sein Studium konzentriert. Auf ein Turnier in Kickboxen, das vielleicht. Oder auf ein Praktikum bei irgendeiner Zeitschrift, immer in der Hoffnung, dass er als Gottes Geschenk an den Journalismus entdeckt werden würde. Um dann doch nur irgendwelche Allgemeinplätze von sich zu geben, die er aus dem Internet zusammengeklaubt hatte. Wissenschaftliche Ergüsse waren von ihm ebenso wenig zu erwarten wie ein richtig guter Artikel. Das war zumindest meine Meinung.
    Mühsam genug hatte ich lernen müssen, dass Erik seine Fähigkeiten am besten auf der Jagd nach einer coolen Party entfalten konnte. Oder beim Erobern eines Mädchens, dem es reichte, dass sie den gut aussehenden Typen aus dem Mittelalterseminar an ihrer Seite hatte. Wenn auch nur für kurze Zeit. Wie war noch der Name seiner neuen »Studienkollegin«? Silke? Erstes oder zweites Semester, große Augen, lange Beine und irgendwo unter den langen Haaren ein bisschen Hirn.
    Ich schob eine Haarsträhne hinters Ohr und atmete durch. Das war ungerecht. Bestimmt war Silke einfach nett, ein Kumpel, mit dem man viel lachen konnte. Doch in
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