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Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising

Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising

Titel: Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Autoren: Thomas Harris
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PROLOG

    Die Tür zu Dr. Hannibal Lecters Gedächtnispalast befindet sich in dem Dunkel im Zentrum seines Geistes, und sie hat eine Klinke, die nur mit dem Tastsinn gefunden werden kann. Dieses eigenartige Portal öffnet sich auf äußerst große und gut beleuchtete Säle, früher Barock, und auf Gänge und Kammern, die es an Zahl und Vielfalt mit denen des Topkapi-Museums aufnehmen können.
    Überall sind Ausstellungsstücke, großzügig gehängt und gut beleuchtet, jedes an Erinnerungen gekoppelt, die in geometrischer Folge zu anderen Erinnerungen führen.
    Säle, die Hannibal Lecters frühesten Jahren gewidmet sind, unterscheiden sich insofern von den anderen Archiven, als sie unvollständig sind. In einigen Fällen handelt es sich um statische Szenen, bruchstückhaft, wie bemalte attische Scherben, zusammengehalten von nacktem Gips. Andere Räume enthalten Klang und Bewegung, große im Dunkeln sich wälzende Schlangen, immer wieder blitzartig erhellt. Manche Areale der Anlage, die Hannibal selbst nicht betreten kann, sind gefüllt mit flehentlichen Bitten und Schreien. Doch die Wände der Korridore werfen keine Schreie zurück, und es gibt Musik, wenn Sie das möchten.
    Mit dem Bau des Palastes wurde schon früh in Hannibals Leben als Lernender begonnen. In den Jahren der Inhaftierung verbesserte und vergrößerte er seinen Palast, und seine Schätzt halfen ihm über die langen Durststrecken hinweg, wenn Wärter ihm Bücher verweigerten.

    Lassen Sie uns hier, im heißen Dunkel seines Geistes, gemeinsam nach der Türklinke tasten. Und wenn wir sie finden, wollen wir uns für Musik in den Korridoren entscheiden und, nicht nach links oder rechts blickend, zum Saal des Beginns gehen, wo die Exponate am lückenhaftesten sind.
    Wir werden ihnen hinzufügen, was wir anderswo in Erfahrung gebracht haben, in Kriegsdokumenten, Polizeiberichten und Interviews, in stummer Forensik, in den Körperhaltungen der Toten. Die Briefe seines Onkels Robert Lecter, vor Kurzem entdeckt, könnten uns dabei helfen, den Lebenslauf Hannibals zu rekonstruieren, denn er selbst hat die einzelnen Daten nach eigenem Gutdünken immer wieder geändert, um die Ermittlungsbehörden und seine Chronisten zu verwirren.
    Vielleicht können wir dank dieser Bemühungen dabei Zusehen, wie sich die Bestie dort drinnen von der Zitze abwendet und sich, trotz Gegenwind, in die Welt hinausbegibt.

  
    Das ist das Erste,
    das ich erkannte:
    Die Zeit ist wie das Echo
    einer Axt im Wald.
      

Philip Larkin

1

    Hannibal der Schreckliche (1365-1428) erbaute Burg Lecter in fünf Jahren und setzte dabei die Soldaten ein, die er bei der Schlacht von Žalgiris gefangen genommen hatte. An dem Tag, als zum ersten Mal sein Banner auf den fertiggestellten Türmen flatterte, rief er die Gefangenen im Gemüsegarten der Burg zusammen, stieg auf das Galgengerüst, das dort stand, und schenkte ihnen, wie versprochen, die Freiheit. Statt in ihre Heimat zurückzukehren, entschieden sich jedoch wegen der vorzüglichen Verpflegung viele dafür, in seinen Diensten zu bleiben.
    Mehr als fünfhundert Jahre später stand Hannibal Lecter, acht Jahre alt und der Achte dieses Namens, mit seiner kleinen Schwester Mischa im Gemüsegarten und fütterte die schwarzen Schwäne auf dem schwarzen Wasser des Burggrabens mit Brot. Mischa, die sich Halt suchend an Hannibals Hand klammerte, traf bei mehreren Würfen mit ihren Brotstücken nicht einmal den Burggraben. Dicke Karpfen stießen gegen die Seerosenblätter, und die Libellen flogen erschrocken auf.
    Jetzt kam der Leitschwan aus dem Wasser. Auf seinen kurzen Beinen watschelte er auf die Kinder zu und zischte sie herausfordernd an. Der Schwan kannte Hannibal schon sein ganzes Leben lang, und trotzdem kam er immer noch drohend an und verdeckte mit seinen schwarzen Flügeln Teile des Himmels.
    »Ohh, Anniba!«, stieß Mischa erschrocken hervor und ging hinter ihrem großen Bruder in Deckung.
    Hannibal hob, wie es ihm sein Vater beigebracht hatte, die Arme auf Schulterhöhe und streckte sie seitlich weit von sich, wobei durch die Weidengerten in seinen Händen die Reichweite noch zusätzlich vergrößert wurde. Der Schwan blieb stehen, nahm Hannibals größere Spannweite zur Kenntnis und zog sich ins Wasser zurück, um weiterzufressen.
    »Es ist jeden Tag das Gleiche«, sagte Hannibal zu dem großen Wasservogel. Aber dieser Tag war kein Tag wie jeder andere, und er fragte sich, wohin die Schwäne fliehen könnten.
    Mischa hatte vor
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