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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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alten Stadtzentrum. Die meisten wurden während des Krieges zerbombt. Aber wie dem auch sei. Für ältere Leute zählt nicht mehr nur die Schönheit allein, sondern allmählich auch das Praktische.«
    »So alt ist deine Mutter doch noch gar nicht?«
    »Sie wird dieses Jahr dreiundsechzig.«
    »Ist sie noch rüstig?«
    »Sie kann sich nicht beklagen. Nur ihre Gelenke machen ihr zu schaffen. Das Treppensteigen fällt ihr zunehmend schwerer.«
    »Hast du für sie schon betreutes Wohnen oder einen Platz in einem Seniorenheim organisiert?«
    Ich hebe den Kopf. »Natürlich nicht! Ich bitte dich. Meine Mutter kommt nicht in ein Altersheim. Ich darf gar nicht daran denken!«
    »Wohin denn dann?«
    »Ich dachte, das wüsstest du? Sie zieht zu uns.«
    »Zu euch? Wirklich?«
    Ich nicke. »Harald steckt schon bis über die Ohren in der Planung mit dem Architekten. Meine Mutter bekommt ein Häuschen rechts neben dem Bauernhof. Richtig schnuckelig, im gleichen Stil gehalten wie unser Haus. Ende der Woche rechne ich mit dem fertigen Entwurf.«
    Natalie zieht eine Augenbraue hoch. »Moment mal – ist euer Haus denn nicht denkmalgeschützt? Könnt ihr da einfach so etwas nebendran bauen lassen? Bestimmt nicht, oder?«
    Ich lächele nur und sage nichts mehr. Hinter uns haben sich Leute an den Tisch gesetzt, und ich meine am Dialekt des Mannes zu hören, dass er nicht weit von uns entfernt wohnt. Und es gibt schon genug Gerede.
    »Das wird Harald einiges an Gebühren kosten«, erwidert Natalie nach einem kurzen Schweigen. »Oder sollte ich lieber sagen: an Bestechungsgeldern?«
    Erneut schweige ich beredt und hoffe, dass sie den Wink versteht.
    Sie tut es. Nachdem sie sich kurz umgeblickt hat, sagt sie mit etwas leiserer Stimme: »Ich glaube nicht, dass ich es ertragen kann, wenn meine Eltern einmal hilfsbedürftig werden. Ich könnte sie nicht zu mir nach Hause holen. Papa mit seinem Posaunenunterricht, Mama mit ihrer Yogamanie – schon allein die Vorstellung!«
    »Aber sie zieht doch gar nicht zu uns, sondern bekommt ihr eigenes Reich. Und sie hat doch auch immer für mich gesorgt? Außerdem ist sie meine einzige noch lebende Verwandte.«
    »Kann schon sein, aber trotzdem bewundere ich dich.«
    Das sagt mehr über dich als über mich, denke ich, und ich denke noch viel mehr, das ich nicht ausspreche. Ich sehe den Kellner mit unserem Mittagessen kommen und breite die Serviette auf meinem Schoß aus.
    Als mir das Carpaccio serviert wird, läuft mir beim Duft und Anblick von Natalies doppelter Portion Krabbenkroketten das Wasser im Mund zusammen.
    Es gießt wie aus Eimern, als ich quer durch das Neubauviertel am Rande des Dorfes zur Schule rase. Die Tropfen lassen Millionen kleiner Springbrunnen auf dem Asphalt hochspritzen. Meine Scheibenwischer werden mit den Wassermassen, die vom Himmel fallen, kaum fertig.
    Fleur und Charlotte sind über Mittag in der Schule geblieben. Früher konnte ich mir nicht einmal vorstellen, meine Kinder von anderen betreuen zu lassen. Aber jetzt, da sie sieben und fünf Jahre alt sind, finde ich, dass es ihnen gar nicht schadet, ein-, zweimal die Woche über Mittag zu bleiben. Es gefällt ihnen sogar, haben sie mir versichert. Und mir bietet es die Gelegenheit, einmal die Woche meine Mutter zu besuchen, was ich sonst nicht schaffen würde.
    An der Schule gibt es keinen einzigen freien Parkplatz mehr. Die ersten Kinder kommen schon herausgelaufen, springen auf ihre Fahrräder, verschwinden in den Straßen des Wohnviertels oder rennen über den Schulhof zu den wartenden Eltern am Tor.
    Erst zwei Straßen weiter kann ich das Auto vor einem Wohnhaus abstellen. Ich parke dicht neben einer Koniferenhecke – einen Parkplatz kann man das kaum nennen. Der Freelander ragt mit dem Heck mindestens einen Meter weit hinten über, sodass er eine Einfahrt blockiert. Ich halte mir den Regenschirm – einen dunkelgrünen mit beigefarbenem Logo von Ravelin Immobilien – über den Kopf und marschiere im Eiltempo los. Der Regen rauscht auf die Bürgersteigplatten, und immer mehr Kinder in Begleitung ihrer Mütter – oder, sehr selten, ihrer Väter – laufen oder radeln an mir vorbei.
    Fleur und Charlotte stehen wie zwei blonde, durchweichte Kätzchen am Tor.
    »Warum kommst du so spät?«, jammert Charlotte und greift unwillkürlich nach meiner ausgestreckten Hand.
    Ich drücke sanft ihre Rechte. »Tut mir leid, Schätzchen, ich habe keinen Parkplatz gefunden. Das Auto steht etwas weiter weg. Kommt, wir müssen uns
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