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Elfenkind

Elfenkind

Titel: Elfenkind
Autoren: Inka-Gabriela Schmidt
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    Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Luft war abgestanden und drückte schwer aufs Gemüt. Ungeniertes Gähnen machte sich da und dort laut bemerkbar. Der gelangweilte Ausdruck auf den Gesichtern der Studenten war bezeichnend für das Desinteresse, das den Ausführungen des Professors entgegengebracht wurde. Vereinzelt war das Klackern von Fingern auf einer Tastatur zu hören, wobei das Getippe sicherlich nichts mit der Vorlesung zu tun hatte, denn um diese Zeit war niemand mehr motiviert, aufzupassen oder gar mitzuschreiben. Überall im Gebäude war es möglich, per WLAN zu chatten und sich so fürs Wochenende zu verabreden. Nur das zählte jetzt noch.
    Irgendwo scharrte jemand mit den Füßen. Ein anderer ließ die einzelnen Gelenke seiner Finger knacken. Eine Studentin feilte sich sorgfältig die Nägel. In einer der Reihen vor Aliénor unterhielten sich zwei Studenten leise über etwas, was auf dem Display des Laptops zu sehen war, der bei einem der beiden auf den Oberschenkeln lag. Aber die meisten schauten einfach mit glasigem Blick nach vorne oder hatten die Augen geschlossen und dösten. Hauptsache, sie hatten der Anwesenheitspflicht, die vor zwei Jahren eingeführt worden war, Genüge getan und erhielten bei Semesterabschluss ihren Schein.
    In den Augen der Studenten waren diese abendlichen Vorlesungen reine Schikane. Der Platz in den Hörsälen war zwar knapp, aber andererseits war die Uni Köln noch nicht so überbelegt, dass an jedem Tag Spätvorlesungen notwendig waren. Vor allem nicht freitags, wenn alle nur noch an das Wochenende dachten, ausgehen wollten, sich entspannen und Spaß haben.
    Selbst Aliénor, die sonst ein gutes Aufnahmevermögen besaß und lange durchhielt, musste sich mehr als sonst zusammenreißen, den Worten des Professors zu folgen und nicht mit ihren Gedanken abzuschweifen. In ihrem Nacken und den Schultern machte sich eine unangenehme Verspannung bemerkbar, die sie auf das unbequeme Sitzen auf den dünn gepolsterten, ziemlich harten Klappstühlen des Hörsaals zurückführte.
    Den Professor, ein grauhaariger dürrer Mann in einem abgetragenen Anzug – beide hatten ihre besten Zeiten schon lange hinter sich –, schien das alles nicht zu kümmern. Er leierte unbeeindruckt seinen Vortrag herunter, als ginge es ihn nichts an, was im Saal passierte. Wahrscheinlich stimmte das sogar. Denn in vier Monaten würde er der Uni den Rücken kehren und in Rente gehen. Das merkte man immer häufiger.
    Man sollte Lehrer und Professoren leistungsorientiert bezahlen, überlegte Aliénor genervt. Dann würde dieser heute nur den Mindestlohn erhalten oder gar keinen. Aber andererseits, wie sollte man diese Art von Leistung objektiv messen?
    Sie reckte sich, drehte ein wenig ihren Kopf hin und her, um etwas gegen ihre Muskelverspannung und die Rückenschmerzen zu tun, die sie neuerdings quälten. Dabei hörte sie, wie in einer der Reihen hinter ihr jemand leise schnarchte.
    «Was grinst du denn so?», flüsterte Lara, die links von ihr saß, und sah sie von der Seite an.
    Lara war Aliénors beste Freundin. Sie hatten zusammen die Grundschule und das Gymnasium besucht. Danach hätten sich ihre Wege beinahe getrennt, weil Aliénor eigentlich etwas ganz anderes als Jura studieren wollte. Kunst oder Musik oder Gartenbau. Irgendetwas Kreatives. Aber nachdem ihr Vater verkündet hatte, eine brotlose Zukunft würde er ihr nicht finanzieren, hatte Aliénor Laras Drängen nachgegeben und sich für dasselbe Fach eingeschrieben. Juristen werden immer gebraucht und in der Regel verdient man auch ganz ordentlich, hatte Lara argumentiert. Inzwischen waren beide froh, dass sie auch diese Zeit zusammen verbrachten, miteinander lernten und sich ergänzten. Wider Erwarten kam Aliénor mit dem trockenen Stoff sogar ganz gut zurecht.
    Aliénor machte eine Kopfbewegung nach hinten. «Wigo schnarcht mal wieder», flüsterte sie.
    Lara schüttelte den Kopf. «Was du wieder alles hörst.»
    Sie reckte den Hals und schaute sich suchend um. Der ähnlich wie ein Amphitheater im Halbrund angeordnete Hörsaal führte hinter ihnen noch einige Reihen steil nach oben. Dann grinste sie ebenfalls.
    «Sein Mund steht sperrangelweit offen. Ist das peinlich!»
    Die Mädchen kicherten leise und hingen dann noch eine Weile ihren Gedanken nach, bis der Professor endlich das Ende der Vorlesung verkündete. Auf einmal kam Leben in die verschlafenen Gesichter. Die ersten stürmten bereits die steilen Treppen des
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