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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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Harald das.
    Doch dazu fühle ich mich augenblicklich kaum in der Lage. Ich habe nicht die geringste Lust, Partys zu organisieren, und Anton will ich schon gar nicht sehen, vor lauter Angst, was ich möglicherweise in seinem Blick zu lesen bekomme. Lieber würde ich mich in einem dunklen Winkel verstecken, wo mich niemand stört. Mich unsichtbar machen.
    Seitdem ich Chris gesehen habe, habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen, und auch tagsüber vergeht kaum ein Moment, ohne dass ich sein widerliches Grinsen vor mir sehe. Ich spüre, wie ich starke Kopfschmerzen bekomme, und massiere mir mit den Fingerspitzen die Stirn.
    Harald bemerkt nicht, wie unruhig ich bin, blättert seelenruhig in seiner Zeitung und trinkt einen Schluck von seinem Kaffee. Er hat auch nicht den geringsten Grund, anzunehmen, dass seine Wünsche nicht erfüllt werden. »Also, möchtest du nun, dass deine Mutter zu uns zieht oder nicht?«
    Ich blicke auf. »Das ist gemein. Schäm dich.«
    »Claire, komm mal zu mir«, sagt er plötzlich leise und schiebt die Zeitung beiseite. »Was ist denn los mit dir? Du bist ja ganz durcheinander in den letzten Tagen.«
    Ich lächele nervös, gehe zu ihm und streichele ihm durch die dunklen Locken. Dann lehne ich mich nach vorn, stecke meine Nase hinein und küsse ihn auf den Kopf. Harald hat wunderbare Haare. Sie sind bisher kaum ergraut und duften immer gut. »Ich bin einfach nur ein bisschen erschöpft«, erwidere ich sanft. »Vielleicht Frühjahrsmüdigkeit, wer weiß.«
    Harald streichelt über meine nackten Unterarme, sucht nach meinen Fingern, führt sie an den Mund und küsst sie einen nach dem anderen. »Hmmm … was ist das bloß mit dir … Seit acht Jahren zusammen, und noch immer bist du das Schönste, Beste, Liebste …«
    Irgendwo am Rande meines Bewusstseins höre ich ein Auto kommen. Vor unserer Auffahrt wird es langsamer. Bremst es? Bleibt es stehen? Wir erwarten keinen Besuch. Der Motor brummt jetzt im Leerlauf. Oder irre ich mich? Der Fernseher ist zu laut, ich kann es nicht deutlich genug wahrnehmen.
    Ich höre Harald nicht mehr zu, spüre seine Liebkosungen nicht, sondern versuche, einen Blick von dem zu erhaschen, was auf der schmalen Straße vor unserem Haus geschieht. Das große Fenster bietet Aussicht auf die Auffahrt und die Bäume und Sträucher auf der Vorderseite unseres Grundstücks. Aber durch die vielen jungen Blätter ist nichts von dem zu sehen, was dahinter vor sich geht.
    »… und wie gut du riechst!«
    Von Fleurs Zimmer aus kann man die Straße sehen.
    Ich löse mich von Harald. »Ich … ich geh mal kurz hoch.«
    »Guter Plan«, murmelt Harald. »Die beiden sitzen sowieso vor dem Fernseher.«
    Zu spät begreife ich, dass er mich falsch verstanden hat.
    Von der Diele aus schaue ich ins Wohnzimmer und sehe unsere Töchter vor dem Flachbildfernseher hängen. Charlotte liegt bäuchlings auf einem Rentierfell, den Daumen im Mund. Von Fleur sehe ich nur die Füße. Rosa Socken, die wackelnd über die Rückenlehne des Sofas hinausragen.
    Harald steht hinter mir, umfasst sanft meine Taille und lässt seine Finger über meinen Bauch wandern. »Worauf wartest du?«, flüstert er ungeduldig und küsst mich auf den Hals. »Komm mit.«
    Ich lasse mich praktisch die Treppe hinaufschieben, Haralds Hände auf meinem Po.
    Als wir oben sind, mache ich mich von ihm los und eile in Fleurs Zimmer, von wo aus ich einen Blick auf die Auffahrt und die Straße werfe. Niemand. Ich höre auch keine Geräusche mehr. Wer oder was auch immer dort draußen gewesen ist, ist nicht mehr da. Ich ziehe die Gardinen zu.
    »Hier?«, fragt Harald und blickt sich erstaunt um. »Im Kinderzimmer? Ich weiß nicht, ob –«
    »Nein, Dummerchen, natürlich nicht. Komm mit.« Ich nehme ihn an der Hand und ziehe ihn in unser Schlafzimmer.
    Die Zahlen auf dem Radiowecker leuchten blau. Ich liege hellwach neben dem tief schlafenden Harald und starre die bizarren Schatten an der Decke an, die die sanft hin und her wiegenden Laubbäume werfen. Ich bilde mir ein, Frösche im Teich der Nachbarn quaken zu hören. Einen Hund, der in der Ferne bellt. Im Stall höre ich Humboldt beruhigend schnauben. Einmal. Zweimal.
    Eine schwüle, ruhige Frühlingsnacht auf der Insel.

6
    An diesem Morgen ist es nicht sehr voll im Wartezimmer des Hausarztes. Außer mir sitzen dort nur ein steinaltes Ehepaar, das stur geradeaus blickt, und eine Mutter mit einem Säugling auf dem Schoß. Wahrscheinlich ist das Baby krank: wässrige Augen, rote
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