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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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Vater es mich gelehrt, und so hat er seinen Beruf wiederum von seinem Vater gelernt. Sie wussten, was gut war. Mit ihrem Weitblick, ihrem Einsatz und ihrem Wissen haben sie die Firma zum Erfolg geführt. Dass ich sie noch weiterbringen könnte, ist jedoch eine Utopie. Bei der heutigen Marktlage darf ich mich glücklich schätzen, wenn ich Ravelin Immobilien einigermaßen gesund erhalte, damit später einmal eine meiner Töchter den Betrieb übernehmen kann.
    Ravelin und dessen hervorragenden Ruf für meine Kinder zu bewahren, ist mein wichtigstes Anliegen. Das bin ich meinem Vater und meinem Großvater schuldig. Manchmal wünschte ich, die Verantwortung würde etwas weniger schwer auf meinen Schultern lasten. Ich hätte gerne mehr von Claire, von ihrer Unbefangenheit und Offenheit. Allerdings vermute ich, dass sie erheblich weniger sorglos wäre, wenn sie wüsste, in was für einer Lage sich die Firma bereits seit einigen Jahren befindet.
    Daher sage ich nichts.

7
    Bastide – kleineres, provisorisches Bollwerk, das die Bevölkerung eines umkämpften Gebietes schützen oder ihr als Ausweichquartier dienen sollte.
    Quelle: Bouwkundige termen, Dr. E. Haslinghuis, 1986
    »… und dann noch fünf Baguettes, nein, warten Sie, lieber sechs.«
    »Ist notiert, Mevrouw van Santfoort. Sollen wir zur Sicherheit zwei zusätzliche Flaschen Taittinger dazulegen? Aus Erfahrung wissen wir, dass immer mehr Champagner getrunken wird als, sagen wir, Chablis.«
    »Ja, tun Sie das.«
    »Wäre Ihre Bestellung dann so komplett?«
    Ich werfe einen Blick auf den Zettel, der auf dem Lenkrad liegt, und streiche in Gedanken die Posten durch: Getränke, Fleisch, Fisch, Antipasti, Brot, Salat, Gemüse, Obst, Desserts … »Ja. Ich glaube schon. Können Sie alles bis morgen Nachmittag liefern?«
    »Wir tun unser Bestes.«
    »Vielen Dank.« Ich beende das Gespräch, stecke das Handy in meine Handtasche und blicke mich um.
    Die Straße, in der meine Mutter wohnt, liegt nicht weit entfernt von dem Viertel, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, ist meine Mutter in eine kleinere Wohnung gezogen, und zwar zu meinem Erstaunen nur einen Steinwurf von der Mietwohnung entfernt, in der sie mich zur Welt gebracht hat. Ich hatte erwartet, dass sie in ihren Geburtsort zurückkehren würde, aber sie ist der Hafenstadt treu geblieben.
    Der Grund ist mir ein Rätsel. Bei jedem Besuch finde ich die Gegend unerträglicher. An meine frühere Heimat erinnert mich hier kaum noch etwas. Jede Woche kommt eine neue, einschneidende Änderung hinzu, wie in einer perfiden Version des Spiels »Such die Unterschiede«. Der kleine Supermarkt an der Ecke ist weg, aus der Frittenbude ist ein Dönerladen geworden, und ein Teil des Viertels wurde ganz abgerissen. An Stelle der alten Häuser wurden Gebäude hochgezogen, die Harald als »elende Mietskasernen« bezeichnen würde.
    Ich öffne die Zentralverriegelung, greife nach meiner Handtasche und einer Plastiktüte auf dem Beifahrersitz und steige aus. Sofort schließe ich das Auto wieder ab und presse die Handtasche fest an meinen Körper. Den Kopf trage ich hoch erhoben.
    Ich habe Natalie angelogen. Meine Mutter wohnt in einer kleinen Dreizimmerwohnung im ersten Stock eines Betonmietshauses.
    Sie hat mich schon gesehen und winkt mir hinter der Doppelglasscheibe des Wohnzimmers zu. Dann verschwindet sie hinter der drapierten Gardine, und der Türsummer ertönt.
    Im Flur schließe ich die Tür sorgfältig hinter mir und steige die Treppen zur Wohnung meiner Mutter hinauf. Einen Aufzug gibt es nicht. Der Fußboden ist mit Werbeprospekten übersät, einige Briefkästen sind schwarz verkohlt, und im ganzen Treppenhaus stinkt es nach Urin.
    »Warum bist du so lange im Auto sitzen geblieben?« Die Stimme meiner Mutter hallt im Treppenhaus wider. Ihr affektiertes Hochniederländisch klingt ein wenig deplatziert in dieser Umgebung. Sie ist wahrscheinlich die Einzige in der ganzen Stadt, die nicht den allgegenwärtigen Dialekt spricht, nicht alle drei Sätze ein ungläubiges »Joh!« ausruft oder andere typische Ausdrücke benutzt.
    Meine Mutter passt auch in manch anderer Hinsicht nicht in ihre Umgebung. Aber sie ist die Letzte, die sich daran stört.
    »Ich musste noch jemanden anrufen.« Ich umarme meine Mutter und küsse sie auf beide Wangen. Sie ist kleiner und kräftiger als ich, aber auch sie blondiert ihre Haare und trägt sie in einem lockeren Knoten am Hinterkopf aufgesteckt. Ihre
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