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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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Flecken auf den Wangen. Lustlos nuckelt es an seinem Schnuller. Die Mutter wippt ungeduldig mit einem Bein, das Kind wippt notgedrungen mit.
    Beim Hereinkommen habe ich mir eine Zeitschrift von dem kleinen Tisch genommen, aber noch nicht darin geblättert. Über den Köpfen des Ehepaares hängt ein Plakat, das die Patienten aufruft, Blut zu spenden. Daneben ein Poster des Bundes gegen das Fluchen mit einem farbenfrohen Ara darauf, unter dem in schwarzen Druckbuchstaben steht: FLÜCHE PLAPPERT MAN NACH. SEI KEIN PAPAGEI . In der Ecke des quadratischen, hellgelb gestrichenen, fensterlosen Warteraums steht ein kleines Regal mit Prospekten, die in einfacher Sprache über die verschiedensten Krankheiten aufklären. Die junge Mutter sieht zu mir hinüber. Um Blickkontakt zu vermeiden, schlage ich die Zeitschrift auf und tue so, als würde ich lesen.
    Minute um Minute vergeht.
    Es ist viel zu warm im Wartezimmer, und ein aufreizender, stechender Geruch liegt in der Luft, eine Mischung von Zentralheizungsdunst, Linoleum, alter Farbe und Desinfektionsmittel. Doch selbst wenn es nach Veilchen geduftet und ein Kaminfeuer gebrannt hätte, hätte es für mich keinen Unterschied gemacht. Ich reagiere auf alles gereizt. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt.
    Die Arzthelferin erscheint in der Tür. Sie sieht immer ein wenig blass aus, weil sie nie Make-up trägt und von Natur aus helle Wimpern hat. Der Effekt wird durch die unbarmherzige grelle Beleuchtung noch verstärkt. Sie hat ihre langen dunkelblonden Haare am Hinterkopf zu einem Knoten hochgesteckt und trägt ein züchtiges Kleid, das ihrer Figur nicht gerade schmeichelt.
    »Mevrouw van Santfoort?«, fragt sie, mit dem rollenden R, das typisch ist für diese Gegend, ebenso wie die altmodischen Umgangsformen. »Bitte kommen Sie mit.«
    Ich stehe auf, nehme meine Handtasche vom Stuhl neben mir, lege die Zeitschrift im Vorübergehen auf das Tischchen, nicke den anderen Patienten zu und folge der Arzthelferin ins Sprechzimmer.
    Mein Hausarzt Dr. Vlier schüttelt mir die Hand und bedeutet mir, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Anschließend verkriecht er sich hinter seinem Computer und braucht mindestens drei Minuten, um meine Daten herauszusuchen. Ich nehme jedenfalls an, dass er das tut – vielleicht hat er aber auch Patience gespielt oder seine E-Mails gelesen. Von meinem Platz aus habe ich den Monitor nicht im Blick.
    Dann sieht er mich an. »Sie leiden also unter Schlafstörungen, Mevrouw van Santfoort?«
    Ich nicke. »Ja, das stimmt.«
    »Können Sie schlecht einschlafen, oder werden Sie nachts öfter wach?«
    »Sowohl als auch.«
    Diese Antwort scheint ihn nicht zufriedenzustellen. Er zieht ein skeptisches Gesicht und runzelt die Stirn über seiner Goldrandbrille. »Aha«, sagt er nur. Dann wendet er sich wieder seinem Computerbildschirm zu und beginnt im Einfingersystem quälend langsam Informationen einzugeben.
    »Ich bin auch sehr nervös in letzter Zeit. Gereizt.«
    Er murmelt etwas Unverständliches, das für mich so klingt wie: »Das gehört dazu.« Dann blickt er auf und fragt: »Haben Sie diese Ein- und Durchschlafstörungen schon lange?«
    Jetzt muss ich übertreiben, es schlimmer darstellen, als es ist. Ich kenne diesen Mann schon seit Jahren. Es ist ihm zuzutrauen, dass er mich mit dem Rat nach Hause schickt, vor dem Schlafengehen eine warme Milch zu trinken, nach sieben nicht mehr fernzusehen und erst dann einen neuen Termin zu vereinbaren, wenn nach einem Monat keine Besserung eingetreten ist. Vlier verschreibt nicht gerne Medikamente, fast so, als würde sein Einkommen mit jedem Rezept gekürzt, mit dem er die seiner Obhut und seiner Diagnose anvertrauten Dorfbewohner zur Apotheke schickt.
    »Seit ungefähr zwei Wochen«, antworte ich auf seine Frage.
    »Trinken Sie abends Kaffee oder Cola?«
    Erneut schüttele ich den Kopf.
    »Gibt es Probleme mit den Kindern oder etwas anderes, das Sie belastet? Hat sich in der letzten Zeit etwas in Ihrer Umgebung oder in Ihrem Leben verändert?«
    Endlich.
    Ich straffe den Rücken. »Meine Mutter wird allmählich pflegebedürftig. Sie wohnt achtzig Kilometer entfernt, und ich versuche, sie so oft wie möglich zu besuchen, aber das ist nicht leicht. Wir sind schon dabei, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Ich will mich auch nicht beklagen, aber alles zusammengenommen ist schon sehr belastend, wenn man sich auch noch um zwei Kinder kümmern muss … Und die Situation wird nicht gerade
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