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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen
Autoren: Alexander Köhl
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PROLOG
    Der Kartoffelsack über seinem Kopf versperrte ihm die Sicht. Vorsichtig versuchte er, die Hände zu bewegen. Doch wegen der straff angezogenen Kabelbinder gelang das nur millimeterweise. Durch den Stoff seines Bademantels spürte er rechts von sich die Plastikverschalung der Wagentür, links den bulligen Körper eines nach Schweiß riechenden Mannes. Angst hatte er trotzdem keine.
    Osteuropäische Volksmusik dröhnte aus den Lautsprechern. Sentimental klingende Männerchöre, von Balalaikas und Trommeln begleitet. Hinter seiner Stirn brach ein Krieg aus. Doch sie bitten, den Lärm leiser zu stellen, wollte er nicht. Stattdessen versuchte er, das Pochen in seinem Schädel zu ignorieren und sich in Erinnerung zu rufen, wie er in diese katastrophale Lage geraten war.
    Da war dieses Geräusch gewesen. Hinten an der Tür zum Garten. Ein Scharren, als ob sich jemand am Schloss zu schaffen machte. Er hatte sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte. Hatte intuitiv das Licht gelöscht und in der Stille ausgeharrt. Doch dann, nachdem es eine Weile ruhig geblieben war, hatte er den Fehler begangen. War wie ein Anfänger zur Terrassentür geschlichen und hatte in den nur vom Mondlicht beschienenen Garten gespäht. Die kahlen und verkrüppelt wirkenden Silhouetten der Apfelbäume und die aus der Form geratene Hecke, durch die ständig der Wind strich – ein gewohntes Bild. Auf der puderzuckrigen Schneeschicht, die den Rasen bedeckte, waren die Spuren eines Marders zu sehen gewesen. Sonst nichts. Eine Winternacht wie schon Abertausende zuvor. Und doch war etwas anders. Minuten später hatte er den Schlüssel im Schloss herumgedreht und zwei, drei Atemzüge lang die klare Nachtluft in sich eingesogen, dann den heftigen Schlag gespürt.
    Â»Was wollt ihr von mir?«, fragte er jetzt mit leiser Stimme, doch auf eine Antwort wartete er vergeblich. »Hey, wo fahrt ihr mit mir hin?«
    Plötzlich hörte der neben ihm auf, das osteuropäische Gedudel mitzusummen, und rief dem Fahrer etwas zu, was er nicht verstand.
    Â»Wohin bringt ihr Kerle mich?«, rief er nun deutlich lauter.
    Â»In den Wald. Tief in den Wald«, grunzte der Koloss an seiner Seite und drückte ihm durch den Kartoffelsack einen Kuss aufs Haupt.
    Dass sie ihm die Sicht nahmen, hatte auch seine gute Seite. Sie befürchteten, später von ihm erkannt zu werden. Daraus schloss er, dass sie nicht vorhatten, ihn zu töten. In dem Fall wäre jegliche Vorsichtsmaßnahme überflüssig. Ihm Angst einzujagen war ihr Ziel. Auf Knien um Gnade winseln sollte er und hoch und heilig versprechen, sich in Zukunft aus den Angelegenheiten anderer herauszuhalten.
    Â»Ich muss mal«, hörte er sich auf einmal sagen.
    Â»Kannst du gleich in Hose pissen. In Wald, aber nix in Auto«, erwiderte der Fahrer.
    Nach einer Weile drosselte der Wagen die Geschwindigkeit und nahm tatsächlich eine Abbiegung in einen Wald- oder Feldweg. Das Geräusch von an den Unterboden schlagenden Steinchen oder Eisklumpen mischte sich unter die laute Musik. Von der Fahrt über den unebenen Weg wurde sein Oberkörper hin- und hergeschleudert. Eine Vorstellung, wo sie sich befanden, hatte er keine.
    Hinter einer scharfen Rechtskurve hielt der Wagen abrupt an. Das Motorengeräusch erstarb und mit ihm der Lärm aus den Lautsprechern. Im ersten Moment empfand er die Ruhe als Wohltat. Doch plötzlich öffnete sich neben ihm die Wagentür. Aus der Ferne erklang der Schrei eines Nachtvogels. Sonst war kein Laut zu hören. Da er ihm offenbar nicht schnell genug ausstieg, wurde er von dem Koloss ins Freie gestoßen. Er stolperte durch den knöcheltiefen Schnee. Seine Füße wurden nass. Im Bademantel und in den Pantoffeln würde er sich die Erkältung des Jahrhunderts holen, befürchtete er. Idiotisch, dass er in so einem Moment an seine Gesundheit dachte. Als sei das sein größtes Problem: die nächsten Tage mit honiggesüßtem Tee das Bett hüten zu müssen.
    Er hörte seine Entführer miteinander tuscheln. Dann packte ihn der Koloss am Revers des Bademantels und zerrte ihn einen Trampelpfad entlang. Durch den grobmaschigen Stoff des Kartoffelsacks konnte er das Aufblitzen einer Taschenlampe sehen. An einer abschüssigen Stelle verlor er den Halt. Ein, zwei Meter rutschte er einen Abhang hinunter, bis ein Baumstamm ihn bremste. Gestrüpp riss an seinem Oberschenkel die
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