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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen
Autoren: Alexander Köhl
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Haut auf. Das linke Bein schmerzte. Doch noch bevor er sich die betroffene Stelle reiben konnte, waren sie wieder bei ihm und zogen ihn auf die Füße. Die Männer lachten, während sie ihn auf den Trampelpfad zurückführten.
    Nach weiteren etwa hundert Metern Fußmarsch sagte der Fahrer: »Hier gut.«
    Der Koloss gab lediglich ein Grunzen von sich.
    Sekundenlang machten sich die beiden an einem Baum zu schaffen. Im Geäst über ihm raschelte es. Es klang, als ob etwas nach oben geworfen würde. Doch ehe ihm dämmerte, was das sein könnte, wurde ihm auch schon der Sack vom Kopf gerissen. Der Koloss – ein übergewichtiger Mann mit ausgeprägter Stirn und dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen – glotzte ihn mit teilnahmsloser Miene an. Er wurde an den Schulterblättern gepackt und mit einem Ruck herumgedreht. Jetzt hatte er den Fahrer im Blick. Auffällig an ihm war der Ringfinger an seiner linken Hand. Er fehlte. Seine wasserstoffblond gefärbten Haare trug er vorne kurz und nach hinten hin abgestuft. Die graublauen Augen des Mannes fixierten ihn. Ein Machtspiel. Mit größter Mühe hielt er dem Boxerblick stand. Nun würden sie damit herausrücken müssen, was der ganze Hokuspokus sollte. Doch auf einmal setzte der Wasserstoffblonde ein breites Grinsen auf. Da begriff er plötzlich, was es bedeutete, dass man ihn vom Kartoffelsack befreit hatte. Schreien wollte er, doch es ging nicht. Eine Schlinge wurde von hinten über seinen Kopf gestreift. In Panik machte er einen Schritt nach vorne. Das Seil straffte sich und zog ihn in die Höhe, bis er auf Zehenspitzen unter dem Baum stand.
    Â»Du jetzt beten.«
    Er schüttelte den Kopf und versuchte, seine gefesselten Arme zu heben.
    Â»Du jetzt beten!«, brüllte der Wasserstoffblonde und trat ganz dicht an ihn heran.
    Als er den Atem des Mannes auf seinem Gesicht spürte, ließ er die Arme sinken. Nicht einmal das Vaterunser fiel ihm mehr ein. Stattdessen dachte er an Felix und ob er damals das Opfer einer ähnlich grausamen Tat geworden war.

Vier Tage zuvor

EINS
    Jonas Fremden erreichte Bad König gegen zehn Uhr morgens. Während er die fünf Sandsteinstufen des Fachwerkhauses emporstieg, wurde er von der Einfahrt des Nachbargrundstücks aus beobachtet. Ein auf eine Schneeschaufel gestützter Mann starrte grimmig zu ihm herüber.
    Bevor Fremden die Eingangstür öffnete, hielt er einen Moment lang inne. Mit den Fingerspitzen fuhr er über das an die Hauswand geschraubte Emailleschild. »Jonas Fremden, Private Ermittlungen« . Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach so vielen Jahren an diesen Ort zurückzukehren.
    Als er über die Schwelle trat, empfing ihn ein modriger Geruch. Im Flur standen alte Möbel. Fast ausnahmslos Stücke aus billigem Pressspan mit Sechziger-Jahre-Furnier. Staubpartikel wirbelten durch die Luft, während er sich in Richtung Küche in Bewegung setzte.
    Ãœber dem Türrahmen hing noch die Uhr mit dem Maggi-Schriftzug. Hinter der Keramikspüle, die von einem langen Haarriss durchzogen war, klebten Fliesen mit hellblauem Muster. Am Fenster stand unweit des Bollerofens ein eierschalenfarben lackierter Holztisch mit zwei dazu passenden Stühlen. Auf denen hatten sie gesessen, als sein Onkel ihm von seinen obskuren Fällen erzählt hatte. Damals war er noch ein Junge gewesen, und das Haus mit seinen wuchtigen Möbeln hatte groß und herrschaftlich auf ihn gewirkt. Die Erinnerung an das Mondäne musste ihn wohl begleitet haben, als er sich am Morgen hierher auf den Weg gemacht hatte.
    Vor dem Kühlschrank klebte eine bräunliche Lache auf dem Boden. Nichts Gutes ahnend, öffnete Fremden die Kühlschranktür. Ein grün-weißlich verschimmelter Klumpen präsentierte sich ihm auf dem obersten Einlegeboden. Auf den Tag genau vor vier Wochen war sein Onkel tot umgefallen. Einfach so, von jetzt auf gleich. Hirnblutung, hatte der Arzt post mortem diagnostiziert. Seitdem hatte offenbar keine Menschenseele mehr das Haus betreten.
    Im Wohnzimmer kämpfte sich die Sonne durch ungeputzte Fenster. Ihre Strahlen fielen auf schwere Polstermöbel und auf die zahlreichen an den Wänden hängenden Bocksgeweihe. Eine Wand war ausschließlich für die Puzzles reserviert. Das Schloss Neuschwanstein, ein herbstlicher Wald sowie Kätzchen und Häschen, die sich mit weit geöffneten Augen über die
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