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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit
Autoren: Daphne DuMaurier
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    Das erste, was mir auffiel, war die Klarheit der Luft und dann auch das helle Grün der Landschaft. Nirgends sanfte Linien. Die fernen Hügel verschwammen nicht mit dem Himmel, sondern hoben sich wie Felsen vor ihm ab und wirkten so nah, daß ich glaubte, sie berühren zu können; diese Nähe wunderte und erschreckte mich wie ein Kind, das zum erstenmal durch ein Teleskop blickt. Jeder Gegenstand rückte näher und hatte die gleichen harten Konturen. Jede Fiber in mir war seltsam gespannt. Gesicht, Gehör, Geruch – alle Sinne waren gespannt.
    Alle bis auf den Tastsinn. Den Boden unter meinen Füßen spürte ich nicht. Magnus hatte mich darauf vorbereitet. Er hatte gesagt: »Wenn dein Körper leblose Gegenstände berührt, fühlst du es nicht. Du gehst, stehst, sitzt, du streifst etwas, aber du spürst nichts. Mach dir deswegen keine Sorgen. Daß du dich bewegen kannst, ohne etwas zu fühlen, macht schon das halbe Wunder aus.«
    Ich hatte das natürlich als Scherz aufgefaßt, als weiteren Anreiz, der mich zu dem Experiment verleiten sollte. Jetzt stellte sich heraus, daß er recht gehabt hatte. Ich ging, und es war eine ganz neue, erregende Erfahrung, denn ich bewegte mich scheinbar mühelos und spürte keine Berührung mit dem Boden.
    Ich ging hinab zum Meer, durch jene Felder scharfkantigen Silbergrases, das in der Sonne glitzerte, denn der Himmel – der mir vorhin noch trübe schien – war jetzt wolkenlos: ein leuchtendes, hinreißendes Blau. Als ich an den Rand der Klippe trat und hinuntersah, dorthin, wo vorhin noch der Weg war, das Wirtshaus, das Café und die Häuser am Fuß von Polmear Hill, bemerkte ich, daß das Meer das Land bedeckte und eine Bucht bildete, unter deren Fluten ein Teil des Tales verschwand. Straßen und Häuser gab es nicht mehr. Ich wäre vielleicht ewig dort stehengeblieben, verzückt, zufrieden, so zwischen Himmel und Erde zu schweben, fern von allem Leben, das ich vorhin noch kannte oder kennen wollte. Da bemerkte ich plötzlich einen Reiter, der sich mir auf einem Pony näherte. Die Hufe hatten kein Geräusch verursacht – das Pony mußte sich ebenso leise wie ich über die Felder bewegt haben. Und jetzt, da es über den Kies trabte, traf das Klirren der Steine meine Ohren wie ein plötzlicher Schock, und ich roch den starken Geruch des warmen, schweißbedeckten Pferdekörpers.
    Ich fuhr instinktiv etwas zurück, denn der Reiter kam direkt auf mich zu, ohne mich wahrgenommen zu haben. Am Rand des Wassers zügelte er sein Pony und blickte auf das Meer hinaus, wie um den Stand der Flut abzuschätzen. Jetzt empfand ich zum erstenmal nicht nur Erregung, sondern auch Furcht, denn dies war kein Trugbild, sondern Realität. Ich fürchtete nicht, über den Haufen geritten zu werden; was mich plötzlich in Panik versetzte, war vielmehr die Begegnung selbst, diese Überbrückung der Jahrhunderte zwischen ›seiner‹ Zeit und meiner Zeit. Er wandte den Blick vom Meer und sah mich an. Gewiß sah er mich – denn las ich nicht in diesen tiefliegenden Augen ein Zeichen des Erkennens? Er lächelte, tätschelte den Hals seines Ponys und trieb das Tier dann mit einem raschen Stoß der Absätze in die Flanken über eine Furt, durch einen schmalen Kanal auf die andere Seite.
    Er hatte mich nicht gesehen, er konnte mich nicht sehen; er lebte in einer anderen Zeit. Warum wandte er sich dann aber so plötzlich im Sattel und blickte sich über die Schulter nach mir um? Es war eine Herausforderung. »Folg mir, wenn du Mut hast!« – zwingend, seltsam. Ich schätzte die Tiefe des Wassers an der Furt und stürzte, obgleich es bereits die Hachsen des Ponys erreichte, dem Reiter nach. Es war mir gleichgültig, ob ich naß wurde, und als ich auf der anderen Seite ankam, bemerkte ich, daß ich trockenen Fußes hinübergekommen war.
    Der andere ritt den Hügel hinauf, und ich folgte ihm. Der Pfad, den er einschlug, war schlammig und sehr steil und bog weiter oben scharf nach links ab. Ich erinnerte mich, erfreut über diese Entdeckung, daß der Weg immer noch den gleichen Verlauf nahm; erst heute morgen war ich hier heraufgefahren. Aber weiter reichte die Übereinstimmung auch nicht, denn keine Hecken säumten den Pfad wie in meiner Zeit. Rechts und links Ackerland, dem Winde ausgesetzt, dazwischen Moorflecken, Gestrüpp und Stechginsterbüsche.
    Ich sah meinen Reiter und sein Pony dicht vor mir und folgte ihnen. Ich hätte sie berühren können, aber ich dachte an Magnus' warnende Worte:
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