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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit
Autoren: Daphne DuMaurier
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zärtlich, die Schwellungen hinter Rogers Ohren zu glätten.
    »Ich sage dir, da hilft nichts mehr«, wiederholte Roger. »Dies ist das Ende. Kein Priester, der mir das Totenhemd anzieht, kein Gemeindegrab zusammen mit den anderen. Begrabe mich unten an den Klippen, dort, wo meine Gebeine die Meeresluft spüren.«
    »Ich gehe nach Polpey und hole Bess«, sagte Robbie. »Wir beide bringen dich gemeinsam durch.«
    »Nein«, sagte Roger, »sie muß ihre Kinder und Julian versorgen. Höre meine Beichte, Robbie. Mir liegt seit dreizehn Jahren etwas auf dem Gewissen.«
    Er versuchte mühsam, sich aufzurichten, hatte aber nicht genug Kraft, und Robbie, dem die Tränen über die Wangen liefen, strich seinem Bruder das verfilzte Haar aus den Augen.
    »Wenn sie dich und Lady Carminowe betrifft, brauche ich sie nicht zu hören, Roger«, sagte er, »Bess und ich wissen, wie sehr du sie geliebt hast und immer noch liebst. Wir hatten sie auch gern. Das war keine Sünde.«
    »Es war keine Sünde zu lieben, aber zu morden«, sagte Roger.
    »Wie meinst du das?«
    Robbie, der neben seinem Bruder kniete, starrte bestürzt auf ihn nieder und schüttelte den Kopf. »Du redest irr, Roger«, sagte er sanft. »Wir wissen alle, wie sie starb. Sie war schon wochenlang, bevor sie zu uns kam, krank gewesen, und verheimlichte es vor uns; und als man sie mit Gewalt fortholen wollte, versprach sie, in einer Woche zu folgen, und da ließ man sie hier.«
    »Sie wäre fortgegangen, aber ich habe es verhindert.«
    »Wie denn? Sie starb, bevor die Woche um war, hier oben in der Dachkammer, in Bess' und deinen Armen.«
    »Sie starb, weil ich nicht wollte, daß sie Schmerzen litt«, antwortete Roger. »Sie starb, denn hätte sie ihr Versprechen gehalten und wäre nach Trelawn und von dort nach Devon gefahren, so hätten ihr Wochen, ja Monate einer Todesqual bevorgestanden, wie sie unsere Mutter durchmachte, als wir noch klein waren. Darum ließ ich sie bei uns entschlafen, ohne daß sie wußte, was ich getan hatte, und Bess und du habt es auch nicht gewußt.«
    Er tastete nach Robbies Hand und hielt sie fest. »Hast du dich nie gefragt, was ich tat, Robbie, wenn ich früher noch nachts in der Priorei blieb oder Jean de Meral hier in den Keller mitnahm?«
    »Ich wußte, daß die französischen Schiffe Waren brachten«, antwortete Robbie, »und daß du sie zur Priorei trugst – Wein und andere Sachen, die sie dort brauchten. Darum lebten die Mönche so gut.«
    »Sie lehrten mich dafür ihre Geheimnisse«, sagte Roger. »Wie man Träume und Visionen heraufbeschwört, anstatt zu beten; wie man für ein paar Stunden das Paradies auf Erden sucht; wie man Menschen einschläfert. Erst als der junge Bodrugan in Merals Obhut starb, widerte das Spiel mich an, und ich nahm nicht mehr daran teil. Aber ich hatte die geheime Kunst gründlich gelernt und wandte sie an, als die Zeit kam. Ich gab Lady Carminowe etwas, das den Schmerz linderte und sie langsam einschläferte. Es war Mord, Robbie, und eine Todsünde. Niemand außer dir weiß davon.«
    Die Anstrengung des Sprechens hatte ihn erschöpft, und Robbie, angesichts des nahenden Todes plötzlich hilflos und erschrocken, ließ Rogers Hand los, stand unsicher auf und tastete sich blind vor Schmerz in die Küche, vielleicht, um noch eine Decke für seinen Bruder zu holen. Ich blieb auf den Knien. Roger öffnete zum letztenmal die Augen und starrte mich an. Ich glaube, er bat um die Absolution, aber in seiner Zeit war niemand da, der sie ihm geben konnte. Ich war ebenso hilflos wie Robbie, denn ich kam sechs Jahrhunderte zu spät.
    »Geh hin, Christenseele, geh im Namen des Gottes, des allmächtigen Vaters, der dich schuf, aus dieser Welt, im Namen Jesu Christi, des Sohnes des lebendigen Gottes, der für dich litt, im Namen des Heiligen Geistes, der dich heiligte …«
    An die übrigen Worte konnte ich mich nicht erinnern, und es war auch gleichgültig, denn Roger war tot. Das Licht fiel durch die Ritzen in den Fensterläden der alten Wäscherei, und ich kniete auf dem Steinboden des Labors zwischen den leeren Flaschen und Gläsern. Ich spürte weder Schwindel noch Übelkeit und hörte kein Summen in meinen Ohren. Es herrschte ein großer Frieden.
    Ich hob den Kopf und sah, daß der Arzt an der Wand stand und mich beobachtete.
    »Es ist aus«, sagte ich. »Roger ist tot, er ist frei. Es ist alles vorbei.«
    Der Arzt berührte meinen Arm und führte mich die Treppe hinauf durch das Vorderhaus in die Bibliothek. Wir
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