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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit
Autoren: Daphne DuMaurier
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»Wenn du einer Gestalt aus der Vergangenheit begegnest, so faß sie um Himmels willen nicht an. Bei leblosen Gegenständen macht es nichts, aber wenn du einen Menschen oder ein Tier anrühren willst, so reißt das Band zwischen dir und der Vergangenheit, und du wirst mit einem sehr unangenehmen Schock zu dir kommen. Ich habe es versucht: Ich weiß, wie es ist.«
    Der Weg führte über das Ackerland bergab, und jetzt breitete sich die ganze verwandelte Landschaft vor meinen Augen aus. Das Dorf Tywardreath, das ich wenige Stunden zuvor gesehen hatte, erschien völlig verändert. Hütten und Häuser, die einem Puzzlespiel glichen und sich nördlich und westlich der Kirche aneinandergereiht hatten, waren verschwunden; nur hier und dort erblickte ich einen Weiler, wie von Kinderhänden zusammengefügt; er erinnerte mich an den Spielzeugbauernhof, mit dem ich einst in meinem Zimmer gespielt hatte. Kleine, strohgedeckte Behausungen drängten sich um einen Platz, auf dem sich Schweine, Gänse, Hühner, zwei oder drei angepflockte Ponys und die unvermeidlichen herumlungernden Hunde tummelten. Rauch stieg aus den armseligen Hütten, nicht aus Schornsteinen, sondern aus einem Loch im Dach. Ich wäre gern stehengeblieben und hätte das alles angestarrt, aber der Reitersmann ritt weiter, und mich drängte es, ihm zu folgen. Er bog nach links, saß dann vor einer Umfriedung ab, warf die Zügel über einen Holzstapel am Boden und ging durch ein breites, messingbeschlagenes Tor. Über dem Bogen befand sich die geschnitzte Figur eines Heiligen in feierlichem Gewand; in der rechten Hand hielt er das Andreaskreuz. Meine längst vergessene, oft verspottete katholische Erziehung zwang mich, vor dieser Pforte ein Kreuz zu schlagen, und während ich das tat, ertönte von drinnen eine Glocke, die in meiner Erinnerung einen so tiefen Akkord anschlug, daß ich zögerte, bevor ich eintrat, denn ich fürchtete, daß diese Macht mich wieder zum Kind machen könnte.
    Meine Sorge war unberechtigt. Die Szene, die sich mir bot, war nicht gerade klösterlich. Das Tor öffnete sich auf einen schmutzigen Hof, in dem zwei Männer einen ängstlichen Buben verfolgten, wobei sie mit Dreschflegeln nach seinen nackten Schenkeln schlugen. Nach Gewand und Tonsur zu urteilen, waren die beiden Mönche und der Junge ein Novize; sie hatten seinen Rockschoß über der Taille hochgerafft, um ihrem Vergnügen besonderen Reiz zu verleihen.
    Der Reiter betrachtete das Schauspiel ungerührt, aber als der Junge schließlich hinfiel, das Gewand um die Ohren geschlagen, die mageren Glieder und das nackte Hinterteil entblößt, rief er: »Schlagt ihn nicht noch blutig. Der Prior läßt sich die Spanferkel gern ohne Soße servieren. Jedenfalls solange sie noch nicht zäh sind.« Währenddessen rief die Glocke zum Gebet, ohne jedoch auf die frommen Gottesmänner im Hof Eindruck zu machen.
    Der Reiter, dessen anzügliche Bemerkung Beifall fand, ging in das Gebäude vor uns und folgte einem Gang, der anscheinend die Küche vom Refektorium trennte; der Geruch angebrannten Fleisches wurde leicht gemildert durch den Torfrauch vom Feuer. Ohne die Wärme und die Düfte der Küche und die Kälte im Speisesaal zu beachten, schritt er eine Treppe hinauf, bis er an eine Tür gelangte. Er klopfte an und ging hinein, ohne eine Antwort abzuwarten.
    Der Raum mit seiner Holzdecke und den getünchten Wänden wirkte ein wenig anheimelnder; die geschrubbte und polierte Nüchternheit, eine lebhafte Erinnerung aus meiner Kindheit, fehlte ganz. Auf dem mit Binsen belegten Fußboden lagen von Hunden benagte Knochen verstreut, und das Bett am anderen Ende mit seinen verstaubten Vorhängen diente offenbar als Ablage für allerlei Gerümpel – eine Decke aus Schafsfell, ein Paar Sandalen, einen runden Käse auf einem Zinnteller und eine Angelrute; in der Mitte saß ein Windhund und kratzte sich.
    »Seid gegrüßt, Pater Prior«, sagte der Reiter.
    Irgend etwas setzte sich im Bett auf und vertrieb dadurch den Windhund, der auf den Boden sprang. Es war ein ältlicher Mönch mit rosigen Wangen, der eben aus dem Schlaf auffuhr.
    »Ich habe Weisung gegeben, daß ich nicht gestört zu werden wünsche«, sagte er.
    Der Reiter zuckte die Achseln. »Nicht einmal für das Offizium?« fragte er und streckte die Hand nach dem Hund aus, der neben ihn kroch und mit seinem räudigen Schwanz wedelte.
    Seine spöttische Frage blieb ohne Erwiderung. Der Prior zog die Decken an sich heran und beugte die Knie. »Ich
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