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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit
Autoren: Daphne DuMaurier
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weinte leise, aber bitterlich. Die einzig würdevolle Gestalt war ein Mann mittleren Alters, dessen graue Locken ein schönes, gütiges Gesicht umrahmten. Er blickte mit ehrfurchtsvoll gefalteten Händen unverwandt zum Altar. Das mußte wohl Sir Henry de Champernoune sein, von dessen Frömmigkeit der Prior gesprochen hatte, der Besitzer des Gutes und Herr meines Reiters.
    Dieser schloß die Tür wieder und ging hinaus über den jetzt leeren Hof, zum Tor. Der Dorfplatz lag verlassen da, und am Himmel zogen Wolken herauf, als wollte es Abend werden. Der Reiter bestieg sein Pony und ritt den Weg hinauf durch das höher gelegene Ackerland.
    Ich hatte kein Gefühl für die Zeit – seine oder meine Zeit. Auch mein Tastsinn war noch nicht wiedergekehrt, und ich bewegte mich mechanisch neben dem Reiter her. Wir kamen zur Furt hinab und durchquerten sie, ohne daß die Hachsen seines Ponys naß wurden, denn es war bereits Ebbe eingetreten. Dann ging es weiter über die Felder.
    Als wir oben auf dem Hügel ankamen und die Felder ihre vertraute Gestalt annahmen, erkannte ich mit wachsender Erregung und Überraschung, daß er mich heimwärts führte, denn Kilmarth, das Haus, das Magnus mir für die Sommerferien überlassen hatte, lag hinter dem kleinen Wald vor uns. Sechs oder sieben Ponys weideten dicht am Wege; eins hob beim Anblick des Reiters den Kopf und wieherte, dann machten sie alle gemeinsam kehrt und galoppierten davon. Er ritt über eine Lichtung im Wald; hier senkte sich der Pfad, und unmittelbar vor uns lag ein strohgedecktes Haus, umgeben von einem schmutzigen Hof. Über einer Öffnung im Dach kräuselte sich blauer Rauch. Ich erkannte nur das Tal wieder, in dem das Haus lag.
    Der Reiter saß ab und rief einen Namen. Ein Junge kam aus dem Kuhstall, um ihm das Pony abzunehmen. Er war jünger und kleiner als mein Reiter, hatte aber die gleichen tiefliegenden Augen und war wohl sein Bruder. Er führte das Pony fort, und der Reiter ging durch den offenen Torweg ins Haus, das auf den ersten Blick nur aus einem Raum zu bestehen schien. Ich folgte dicht hinter ihm, konnte aber durch den Rauch wenig erkennen, außer daß die Wände aus einem Gemisch von Lehm und Stroh bestanden und der Boden nicht einmal mit Binsen belegt war.
    Eine Leiter am anderen Ende führte in eine niedrige Dachkammer über dem Wohnraum; ich blickte hinauf und sah Strohsäcke auf den Planken. Der Kamin, in dem Torf und Stechginster brannten, befand sich in einer Nische der Mauer, und über dem aufsteigenden Rauch hing ein Kessel zwischen Eisenstangen, in dem Irish Stew schmorte. Neben dem Feuer kniete ein Mädchen; ihr langes Haar fiel bis über die Schulter hinab. Als der Reiter ihr einen Gruß zurief, sah sie auf und lächelte ihm zu.
    Ich folgte ihm auf den Fersen. Plötzlich drehte er sich um und starrte mir ins Gesicht; wir standen Schulter an Schulter, ich spürte seinen Atem auf meiner Wange und streckte instinktiv die Hand aus, um ihn abzuwehren. Da spürte ich einen stechenden Schmerz an den Knöcheln, sah, daß sie bluteten, und gleichzeitig hörte ich das Geräusch von zersplitterndem Glas. Der Reiter, das Mädchen und das qualmende Feuer waren verschwunden. Ich hatte meine rechte Hand durch das Fenster der unbenutzten Küche im Kellergeschoß von Kilmarth gestreckt und stand in dem alten, eingesunkenen Hof davor.
    Ich stolperte durch die offene Tür, erbrach mich heftig, nicht wegen des Blutes, sondern weil mich eine unerträgliche Übelkeit befiel, die mich von Kopf bis Fuß schüttelte. Am ganzen Körper bebend, lehnte ich mich an die Mauer des Heizungsraums; ein dünnes Blutrinnsal lief über meine Hand.
    In der Bibliothek über mir läutete das Telefon; es klang in seiner Eindringlichkeit wie der Ruf einer verlorenen, einer unerwünschten Welt. Ich ließ es läuten.

2
    Es dauerte fast zehn Minuten, bis die Übelkeit nachließ. Ich saß im Heizungsraum auf einem Holzstapel und wartete. Das schlimmste war das Schwindelgefühl; ich wagte nicht aufzustehen. Der Schnitt in meinem Handgelenk war nicht sehr tief, so daß ich das Blut bald mit dem Taschentuch stillen konnte. Von meinem Platz aus sah ich das zerbrochene Fenster und die Glasscherben im Innenhof. Später würde ich die Szene vielleicht rekonstruieren und mir vorstellen können, wo der Reiter gestanden hatte, wieviel Raum das längst verschwundene Haus eingenommen hatte, wo sich jetzt Innenhof und Kellergeschoß befanden. Aber im Augenblick war ich zu erschöpft.
    Ich fragte
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