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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Berg
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1.
    E in langgezogener Schrei voller Wehmut hallte über den See und verlor sich in der eisigen Kälte. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 8.30 Uhr. Caroline drehte sich auf die andere Seite, zog die Decke bis unters Kinn, nestelte die Füße in die Daunen und versuchte, wieder einzuschlafen, doch sie fand keine Ruhe mehr. Schließlich rollte sie sich auf den Rücken und starrte die mächtigen Deckenbalken und die massiven Bohlen an, aus denen die Wände des Hauses gezimmert waren. Nebenan im Wohnzimmer raschelte es, und sie spürte mehr, als dass sie es sah, wie der Hund auf dem Teppich vor ihrem Bett den Kopf hob und lauschte. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Sie zog die Hand unter der Decke hervor und tastete, bis sie sein dichtes schwarzes Fell unter den Fingern fühlte, seine Muskeln, die sich bei ihrer Berührung entspannten. Es war Andras Idee gewesen, ihn mitzunehmen, und das war ebenso vorausschauend gewesen wie die Entscheidung, Caroline hierherzuschicken.
    Caroline dachte daran, wie die schmale Gestalt ihrer Tante im Rechteck des Autorückspiegels immer kleiner geworden war. Sie hatte ein Wolltuch um die Schultern geschlungen und winkte ihr nach. Ohne viele Worte hatte Andra ihr den Schlüssel für das Haus in die Hand gedrückt und Carolines Finger darum geschlossen: »Es ist alles dort, was du brauchst.« Caroline hatte sich gefragt, wie Andra es gemeint haben mochte. Als sie nach einem halben Tag Fahrt das Haus am Bergsee erreichte, auf den Steg hinauslief und über die weite, schneebedeckte Fläche blickte, da wusste sie es.
    Draußen vor dem Fenster mit seinen dunklen Sprossen dämmerte der Morgen, ein erster Lichtstreif brachte die Bergkuppen am jenseitigen Seeufer zum Leuchten und ließ die Sterne verblassen. Der Hund sprang auf, als Caroline die Decke zurückschlug, und lief zur Tür. Sie zog ihre Winterkleidung über und folgte ihm. Das Thermometer am Fenster zeigte minus vierundzwanzig Grad.
    Auch im Haus war es kalt. Im Wohnzimmer gähnte sie die große, leere Kaminöffnung an, das Feuer war längst heruntergebrannt. Auf dem mit Fellen bedeckten Ledersofa lag noch immer ihr Gepäck, so, wie sie es am Abend zuvor hatte fallen lassen. Ihr Blick glitt über die Bücher, die dicht an dicht die Wände des Raums bedeckten, entdeckte Einbände, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Die Erinnerung an die Erzählungen, die sich dahinter verbargen, ließ sie einen Moment innehalten, bis der Hund sie ungeduldig anstieß.

    Draußen war die Luft klar und so eisig, dass Caroline sich die Mütze tief ins Gesicht zog und Kinn und Mund in ihrem Schal vergrub. Über dem zugefrorenen See lagen Nebelschwaden. Geister der Nacht, hatten sie die flüchtigen Wolkenfetzen früher genannt. Sie starben, wenn die Sonne sie traf.
    Ein Bussard saß auf einem der vereisten Holzpfeiler des Stegs. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und starrte reglos über die weite, unberührte Schneefläche. War es sein Schrei gewesen, der sie geweckt hatte? Caroline verharrte am Ufer und betrachtete ihn. Ein Windstoß zerzauste sein weißbraunes Gefieder. Langsam drehte er den Kopf, als ob er sie erst jetzt bemerkte, und fixierte Caroline aus bernsteinfarbenen Augen. Dann breitete er seine Schwingen aus und stieß sich ab. Geräuschlos glitt er über den See davon und verschwand im Nebel. Nur sein Schrei hallte Augenblicke später zu ihr herüber. Der Hund schob seine Nase in ihre Hand, und Caroline wischte sich die Tränen fort, die über ihre Wangen liefen, als die Einsamkeit sie überwältigte.
    Hastig wandte sie sich ab, stolperte durch den Schnee zurück zum Haus und verdrängte mit aller Macht die verstörenden Bilder der letzten Tage: Liannes lebloser, seltsam verrenkter Körper, ihre leeren Augen, die Blumen am Straßenrand und vor der Tür ihrer Wohnung. Liannes Sarg.
    Menschen hatten sie umringt: bekannte und unbekannte Gesichter. Caroline war durch sie gewandelt wie im Schlaf. Sie musste fort von allem. Von der düsteren Grabstelle, in die der Sarg hinabgelassen wurde, dem prasselnden Geräusch des Sandes, der auf den Deckel fiel. Fort von den Tränen, der Trauer und dem Schmerz, der sie zu zerreißen drohte. Ihr einziges Kind war tot. Ihr unwiederbringlich genommen. Mit nur siebenundzwanzig Jahren. Warum?
    Caroline blieb stehen, trat heftig in den knirschenden Schnee und schrie den reglosen Bäumen entgegen: »Warum? Warum sie?«
    Nichts rührte sich, und die Stille nach dem Verklingen der letzten Silbe war
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