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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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Strickjacke. Die Sachen sind mit Blutspritzern, Grasflecken und Erde beschmutzt. Im November, dem Monat, in dem die Bewohner unserer Gemeinde Gartenabfälle verbrennen dürfen, werde ich sie abholen und zusammen mit Holz und Grünschnitt verbrennen. Jetzt muss es erst einmal so gehen.
    Ich stecke die Waffe in den Müllsack zu der Kleidung. Schweigend blicke ich geradeaus, starre den Inhalt des Schließfachs an.
    Zwischen den Metallwänden stapeln sich Bündel mit Banknoten. Nach der Einführung des Euros habe ich mir genügend Zeit gelassen, um die ursprünglichen britischen Pfund und amerikanischen Dollars einzuwechseln. Immer nur kleine Beträge, weniger als tausend Euro auf einmal, sodass die Bank davon keine Meldung machen musste. Jetzt liegt das Geld hier schon jahrelang sicher versteckt, unangerührt, zusammen mit einigen Resten meiner Einkünfte aus dem Nachtklub. Einen Teil des Betrages, den ich auf meiner Flucht mitgenommen habe, habe ich in den Jahren nach meinem Ausstieg dazu benutzt, mir mein neues Leben aufzubauen. Dennoch sind insgesamt noch fast zweihunderttausend Euro übrig.
    Ich nehme ein paar Bündel heraus und rieche daran. Dieses Geld war nicht für Marius, ganz gewiss nicht für Chris, ja, nicht einmal für Harald bestimmt gewesen.
    Es gehört mir, mir allein, und hier sollte es liegen bleiben, bis ich es wirklich brauchen würde.
    Ich würde niemals in dieselbe Situation wie meine Mutter geraten. Und meine Kinder würden niemals die Entscheidungen treffen müssen, die ich treffen musste.

52
    »Hallo, Mama!« Charlotte springt sofort vom Tisch auf, als sie mich durch die Hintertür hereinkommen sieht. Ihr Mund ist mit Nutella verschmiert.
    Ich hebe sie hoch und drücke sie an mich. Die ersten Tränen kommen, und ich ziehe die Nase hoch, als sei ich erkältet. Dann betrachte ich sie durch einen feuchten Schleier. »Mein Liebling«, flüstere ich. »Ich habe dich vermisst.«
    »Warum war heute keine Schule?«, fragt Fleur, in einem Ton, der ein gewisses Misstrauen verrät. Sie sitzt am Küchentisch, vor sich ein schwarzes Backblech mit vielen kleinen Teighäufchen. »Mir kommt das irgendwie komisch vor. Papa benimmt sich auch so komisch. Und Oma entertaint uns schon den ganzen Tag.«
    Unwillkürlich muss ich lachen. »Was hast du da gesagt, Fleur? Habe ich das richtig gehört? Oma entertaint euch?«
    Sie nickt grinsend.
    Ich stelle Charlotte wieder auf den Boden, gehe zu Fleur und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. »Witzig«, sage ich.
    »Was hast du in der Tasche?«, fragt Fleur.
    Ich blicke die Sporttasche an, als hätte ich vergessen, dass ich sie dabeihabe. »Meine Sportsachen natürlich.«
    »Warst du deshalb weg?«
    »Ja, ich musste zum Sport.«
    »Oma hat gesagt, du wärst in die Stadt gefahren. Einkaufen.«
    Fleur braucht gar nicht erst auf die Polizeischule zu gehen, sie kann sofort bei der Kripo anfangen.
    »Ja, da war ich auch.«
    »Was ist denn mit Papa los?«
    »Dem geht es nicht so gut«, antwortet meine Mutter, die gerade in die Küche kommt. »Und er ist zu eigensinnig, um sich ins Bett zu legen.«
    »Er sitzt schon den ganzen Tag im Arbeitszimmer«, sagt Fleur.
    »Ja, und er hat ganth rote Augen!«, fällt Charlotte ein und illustriert ihre Worte mit weit aufgerissenen Augen und dazugehörigen Gesten.
    »Er ist krank«, sagt meine Mutter.
    Meine Töchter blicken mich fragend an. Es ist klar, dass sie die Erklärung meiner Mutter nicht ganz ernst nehmen.
    »Oma hat recht. Papa ist ein bisschen krank. Lasst ihn einfach in nächster Zeit in Ruhe. Er muss sich erholen, und das kann er nicht, wenn ihr ihn dauernd stört.«
    »Aber wir stören …«
    »Charlotte und Fleur«, unterbricht sie meine Mutter mit ungewöhnlich autoritärer Stimme. »Wollt ihr die letzten paar Kekse noch verzieren? Dann müsst ihr es jetzt tun, denn in einer Minute werde ich sie in den Ofen schieben.«
    Brav setzen sie sich wieder auf die Küchenstühle, wursteln sich auf die Knie und beugen sich über die Häufchen Sandteig.
    Meine Mutter geht sofort weiter ins Wohnzimmer. Ich folge ihr.
    »Wo ist er?«, flüstere ich.
    »In seinem Arbeitszimmer.«
    »Wie geht es ihm?«
    »Nicht besonders. Ich habe ihm gerade noch Tee gebracht. Er hat am Computer gesessen und Schach gespielt.«
    »Hat er mit dir geredet?«
    »Ja. Er ist allerdings ziemlich verwirrt. Fix und fertig, wenn du mich fragst, aber ruhig. Er hat übrigens auch etwas gegessen. An seinem Schreibtisch.« Sie blickt mich forschend an, beinahe besorgt.
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