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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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genützt. Im Gegenteil. Hätte ich mich ihm entgegengestellt, wäre die Situation nur eskaliert. Dann wäre das Ganze noch viel widerlicher und dreckiger geworden, und er hätte mir wahrscheinlich auch körperliche Schmerzen zugefügt. Bestimmt hätte er mich geschlagen, und dabei hätte er es vermutlich nicht belassen. Vielleicht wäre ich gar nicht mehr am Leben.
    Indem ich mit der Situation auf professionelle Art und Weise umging, konnte er mir letztendlich nicht so viel anhaben, und die seelischen Wunden verheilten recht schnell.
    »So, und wo hast du das Geld?«, fragte Chris, während er recht umständlich und unter viel Geschnaufe seinen Reißverschluss zuzog.
    Ich ignorierte ihn, ging an ihm vorbei in die Küche und wusch mir am Spülbecken Hände und Gesicht. Noch lieber wäre ich nach oben gegangen, um zu duschen und mir den Mund auszuspülen, aber ich wollte Chris nicht unbeaufsichtigt durch mein Haus wandern lassen. Außerdem hätte er mir nach oben folgen und dort wieder auf neue, unangenehme Ideen kommen können.
    »Ich habe dich etwas gefragt!«
    »Ich habe es auf die Bank gebracht.«
    Seine Augen verengten sich. »Auf die Bank?«
    »Ja, in ein Schließfach.«
    Chris suhlte sich noch ganz und gar in seinem zweifelhaften Siegesrausch. Wahrscheinlich kam er nicht einmal auf die Idee, dass ich – ein dummes Blondchen, das, was ihn betraf, ganz unten in der Nahrungskette stand – es wagen würde, ihn reinzulegen. Er kratzte sich am Kinn und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr, um bestätigt zu sehen, was ich genau wusste und er natürlich auch: dass es sieben Uhr abends war und die Bank daher geschlossen hatte.
    »Ich kann es morgen früh abholen«, sagte ich.
    Er nickte, warf einen kurzen Blick nach draußen und nickte noch einmal abwesend. »Dann komme ich morgen wieder.«
    Kurz nachdem er mein Haus verlassen hatte, zog auch ich die Haustür hinter mir zu. Im Kofferraum meines Autos standen Marius’ Sporttasche und die drei Supermarkttüten. Meine Handtasche war randvoll mit Geld, das ich im »Luxuria« verdient hatte.
    Ich drehte mich um und sah zum letzten Mal mein Haus an. Dort drinnen stand nichts von Wert, nichts, was ich vermissen würde. Das alles war Vergangenheit: Bilder und Erinnerungen, die ich buchstäblich hinter mir lassen musste. Ich musste mich jetzt auf die Zukunft konzentrieren.
    Meine Zukunft.
    Mit Marius war für mich der einzige Grund verschwunden, noch an diesem Leben festzuhalten. Es gab kein Argument mehr dafür, mich hier weiterhin aufzuhalten. Von nun an würde doch nur alles bergabgehen.
    Ich war noch jung. Mit über einer halben Million Gulden konnte ich ein neues Leben aufbauen. Und das war genau das, was ich tun würde. An einem ganz anderen Ort, einer Gegend, von der Chris noch nie etwas gehört hatte und wo die Wahrscheinlichkeit, dass ich irgendjemandem aus Marius’ Clique über den Weg laufen würde, äußerst gering war: fromme Kirchendörfer, Künstler und Frauen mit schwarzen langen Röcken in stillen Landschaften.
    Derselbe Bankangestellte wie am Morgen kommt auf mich zugeeilt, sobald er mich – zum zweiten Mal heute – hereinkommen sieht. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
    »Ich muss noch einmal an mein Schließfach. Ich habe etwas vergessen.«
    »Selbstverständlich. Bitte folgen Sie mir.«
    Ich gehe hinter dem Mann her, meine Absätze klappern auf dem glänzenden Travertin. Mein Blick fällt auf ein paar Spritzer getrocknetem Blut an meinem Handgelenk. Ich befeuchte den Daumen und reibe darüber. Sie lassen sich leicht entfernen.
    Durch einen gesicherten Zwischenflur gelange ich in den nächsten Raum. Der Bankangestellte öffnet die riesige, schwere Tresortür, die Zugang zu dem Raum gewährt, in dem sich die größeren Privatschließfächer befinden. »Wenn Sie hinauswollen, Mevrouw van Santfoort, drücken Sie bitte auf diesen Knopf.«
    »Wie immer«, sage ich.
    Sobald ich die Tür mit einem Klicken ins Schloss fallen höre, öffne ich ein Schließfach, ziehe den Reißverschluss der Sporttasche auf, hole die Pistole heraus und lege sie neben die Tasche auf den glatten Tisch. Die Pistole riecht stark nach Pulver. Das fällt mir erst hier auf, in diesem klinisch reinen Raum. Vielleicht bin ich die Erste, die sie tatsächlich benutzt hat. Die Erste, die eine Kugel damit abgefeuert hat.
    Ich ziehe die graue Mülltüte aus der Sporttasche. Darin befindet sich die Kleidung, die ich im Wald getragen habe: meine Jeans, ein T-Shirt und eine dünne, hellblaue
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