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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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hätte.«
    Ich würde ihn am liebsten ins Gesicht fragen, ob er Chris umgebracht hat, aber ich wage es nicht. Noch nicht.
    Ein paar Autos hinter uns teilt eine Politesse Strafzettel aus. Marius hat es auch bemerkt.
    »Sollen wir vielleicht ins Hotel gehen?«, frage ich.
    »Es gibt kein Hotel.« Er weist mit dem Kinn nach vorn. »Fahr einfach ein Stückchen.«
    Ich starte den Motor, blicke in den Rückspiegel und fahre die Straße entlang in Richtung Autobahn. »Es ging dir also gar nicht um mich, oder?«, frage ich, als wir den dichtesten Verkehr hinter uns gelassen haben und ich Gas geben kann. »Es ging dir von Anfang an um das Geld.«
    »Wie du meinst, Muschi.«
    »Kannst du nicht mal meine Frage beantworten?«
    »Ich habe keine Frage gehört.«
    »Warum hast du mich aufgesucht? Meinetwegen? Oder wegen des Geldes?«
    Marius kaut hastig auf etwas herum, klopft ungeduldig mit einer Hand auf das Armaturenbrett und sieht sich ständig um. »Wohin geht denn die Reise?«
    »Verdammt noch mal, Marius!«
    Plötzlich packt er mich mit einer Hand im Nacken. Seine Finger graben sich tief in meine Haut. »Jetzt stell ich mal eine Frage.«
    »Vergiss es.« Ich biege von der Autobahn auf die Landstraße ab. Von hier aus ist es nur noch knapp eine Viertelstunde.
    Ich fühle seinen bohrenden Blick.
    »Ich mag keine Überraschungen, Muschi. Das weißt du genau.« Der drohende Unterton in seiner Stimme entgeht mir nicht.
    »Ja, das weiß ich.«
    »Also solltest du besser keine allzu große Überraschung für mich bereithalten. Ich hoffe, das verstehst du, oder?«
    Ich schnaufe, atme tief durch und sage dann: »Wenn du das Geld hast, lässt du uns dann in Ruhe? Uns meine ich. Nicht nur mich oder Harald, sondern auch die Kinder, die Nachbarn, die Leute an der Schule …«
    »Du willst wissen, ob ich verschwinde, wenn du die Zweihunderttausend rausrückst?«
    »Ja.«
    Als er sich jetzt gespielt lässig zurücklehnt, dann nicht, weil er mir plötzlich vertraut. Das weiß ich. Ihm ist nur gerade eingefallen, dass er doch noch die Situation nach seinem Belieben steuern kann, wenn ihm etwas nicht gefällt. So war es immer, und darauf vertraut er auch jetzt wieder.
    »Dann verschwinde ich, Muschi«, sagt er zufrieden.
    Es ging ihm also nur um das Geld.
    Mir kommt es so vor, als sei der Autobahnlärm noch lauter als vorhin, geradezu ohrenbetäubend laut, als wir zusammen durch die Bäume zum Ufer spazieren. Es ist seltsam, hier mit Marius entlangzugehen. Bisher bin ich immer nur allein hier gewesen oder in Begleitung meines Vaters.
    Ein Güterzug donnert vorbei. Die Gleise liegen zu unserer Rechten, etwas näher als die Autobahn. Dem Geräusch nach besteht der Zug aus zahlreichen, schwerbeladenen Waggons. Ich kann sie nur hören, nicht sehen. Der Wald ist dicht. Wir sind umgeben von der Natur.
    Mit jedem Schritt fällt mir das Gehen schwerer. Von Sekunde zu Sekunde werde ich nervöser. Ich atme schnell und oberflächlich.
    Seitdem wir aus dem Auto ausgestiegen sind, hat Marius nichts mehr gesagt. Einmal hörte ich ihn fluchen, weil seine schneeweißen Sneakers in der weichen, klebrigen Erde schmutzig werden.
    Jetzt kommt die Stelle in Sicht, an der mein Vater seine Aalreusen ausgelegt hat. Und auch die Gruppe der alten Weidenbäume.
    »Da«, flüstere ich. Vor Aufregung versagt mir die Stimme.
    »Was denn?«
    »Da … Da ist es.« Ich zeige auf das Schilf und die Weiden.
    Marius zieht die Augenbrauen hoch. Steht einfach da in seinem makellos weißen Hemd. Die Sonnenbrille hat er in die Brusttasche gesteckt und kneift jetzt die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ich gehe keinen Schritt weiter. Warum hast du das Geld nicht einfach zur Bank gebracht?«
    »Vielleicht, weil es Schwarzgeld ist?«
    »In ein Schließfach, Muschi«, sagt er belehrend.
    »Schließfächer sind auch nicht sicher. In den vergangenen zehn Jahren wurden immer wieder welche ausgeraubt. Nein, hier ist es sicherer. Wer würde hier nach Geld suchen?«
    »Hmm.«
    »Warte einen Augenblick«, sage ich. Es sind noch vier, fünf Schritte bis zum Baum. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sich außer mir irgendjemand hierher verirrt, kann ich es nicht ganz ausschließen, und einen Moment lang habe ich Angst, dass jemand die Sachen weggenommen hat. Der Spalt in der Weide ist von hier aus nicht zu sehen, weil er zum Wasser hin liegt. Das Ufer ist dicht bewachsen, und Schilfstängel streichen mir an den Beinen entlang
    Ich sehe in den ausgehöhlten Stamm. Eine Welle der
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