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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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Restaurants, und verschiedene Reedereien organisieren dort Rundfahrten.
    Hier gibt es keine Wege, jedenfalls keine deutlich markierten, und schon gar keine Informationsschilder. Dennoch laufe ich zielstrebig an den Sträuchern entlang, steige über bemooste Baumstümpfe und umgestürzte Bäume und gelange schließlich ans Wasser. Am Ufer steht eine Gruppe von Weiden, insgesamt fünf. Ich vermute, dass sie an die hundert Jahre alt sind und in all der Zeit natürlich wachsen konnten. Die Stämme haben einen enormen Umfang und sind bei einigen Exemplaren tief eingerissen, so weit, dass natürliche Höhlungen entstanden sind, in denen ich mich als Kind vollständig verkriechen konnte.
    Ich nehme ein handliches Päckchen aus der Sporttasche und lege es auf den Boden einer dieser Höhlungen. Dann harke ich mit beiden Händen dürre Blätter und Zweige vom Boden und streue sie darüber. Anschließend hole ich eine gefaltete Mülltüte aus meiner Jackentasche und verpacke die Puma-Sporttasche darin. Ich biege einige Weidenzweige auseinander und lasse die Tasche in den hohlen Spalt sinken, bis sie ganz davon verschluckt zu sein scheint.

50
    Senkblei – Zylinder mit gelegentlich kegelförmiger Unterseite, aufgehängt an einer dünnen Schnur, mit dem kontrolliert wird, ob eine Linie oder Fläche lotrecht unterhalb eines anderen Punktes liegt.
    Quelle: Bouwkundige termen, Dr. E. J. Haslinghuis, 1986
    Nummer 130 ist kein Hotel, sondern ein unscheinbares Gebäude mit blühenden Sukkulenten auf der Fensterbank und Raffrollos. Auf der Suche nach einem Parkplatz bin ich bestimmt schon dreimal daran vorbeigefahren und habe mich davon überzeugt, dass an der Fassade des Vorkriegshauses kein Schild oder ein anderes Zeichen darauf hinweist, dass es sich hier um ein Hotel handelt.
    Am Ende der Straße fährt vor meiner Nase ein brauner Volvo weg, und ich setze den Freelander sofort in die freie Lücke, wobei ich mit dem rechten Vorderrad den Bürgersteig erwische. Ich schalte den Motor aus und entriegele mit einem Knopfdruck alle Türen.
    Fast im selben Augenblick wird die Beifahrertür aufgerissen, und Marius rutscht auf den Beifahrersitz. Dann zieht er die Tür wieder zu. Er trägt ein grobes weißes Leinenhemd, das ihm gut steht, darunter Jeans. Seine Augen sind hinter einer hypermodernen, dunklen Sonnenbrille verborgen.
    »Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?«, sage ich. Die Frage ist nicht ernst gemeint.
    »Was willst du hier?«
    »Reden«, antworte ich.
    »Wir hatten uns doch nichts mehr zu sagen? Oder irre ich mich?«
    »Du hattest versprochen, mich in Ruhe zu lassen.«
    »Das habe ich auch getan«, behauptet er.
    »Ach ja?« Ich schüttele verärgert den Kopf. »Du bist also nicht bei Harald gewesen? Du hast ihm nichts erzählt?«
    »Doch, das schon«, gibt er fast gleichgültig zu.
    »Wie konntest du das nur tun?«
    Er zuckt mit den Schultern. Blickt starr geradeaus.
    »Marius, antworte mir, verdammt noch mal! Warum tust du so etwas?«
    Er sagt nichts.
    Ich drehe mich um, sodass ich wieder gerade sitze, und blicke ebenfalls ins Leere. Ein Schauder überläuft mich. Von dem engen Band, das ich fühlte, als wir Abschied nahmen, ist nichts mehr übrig. Es ist, als säße ein vollkommen Fremder neben mir.
    Ich flüstere leise: »Harald hat darüber nachgedacht, mich umzubringen, sodass es wie ein Unfall aussehen würde … Aber er ist nicht weiter gekommen als bis zum Entwurf einer Todesanzeige.«
    Marius lacht, als hätte ich ihm einen Witz erzählt.
    »Das ist nicht witzig.«
    »Jetzt hör mir mal zu, dass der Typ so hysterisch reagiert, ist doch allein seine Schuld. Ich habe versprochen, dich in Ruhe zu lassen. Und das habe ich getan.«
    Ich schlage die Augen nieder. »Das ist so unfair.«
    »Da sind ganz andere Dinge unfair«, erwidert er aufgebracht.
    »Warum?« Ich suche seinen Blick, aber der ist unerreichbar weit weg, verborgen hinter den dunklen Brillengläsern.
    »Warum was?«
    »Warum hast du dich an Harald gewandt? Wir hatten uns doch voneinander verabschiedet? Warum lässt du uns nicht in Ruhe?«
    »Ich muss Entscheidungen treffen, Muschi. Wie alle anderen auch. Du hast dich für deine kleine Welt entschieden, ich mich für mich. So funktioniert das nun einmal.« Dann verändert sich sein Tonfall. »Ach ja, und es gab noch einen Grund: weil ich sauer auf dich war. Ich habe mich an mein Wort gehalten, du hast eiskalt gelogen. Tja, vielleicht war ich sogar mehr als sauer. Weil ich das nicht von dir erwartet
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