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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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einen Baukredit für das Häuschen deiner Mutter gewährt hat. Damit sie hier wohnen kann. Bei dir sein kann.«
    Ich umklammere mit beiden Händen meine Oberarme, bis es schmerzt, als ich allmählich die Bedeutung von Haralds Worten erfasse. Ich stamme aus einer Familie, in der die Schulden des Vaters meinen Lebenslauf entscheidend mitbestimmten. Und nun stellt sich heraus, dass ich mit einem Mann verheiratet bin, der seiner Familie dasselbe antut. Nur, dass ich es nicht gewusst habe.
    Bis jetzt.
    »Ich sehe keinen Ausweg!«, jammert er.
    »Sollte ich deswegen sterben?«
    Verwirrt blickt er auf. »Sterben?«
    »Die Anzeige, die Rede?«, erinnere ich ihn.
    Es schüttelt den Kopf. Schlägt die Augen nieder. »Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, was … Ich dachte an die Versicherung, daran dachte ich. Aber ich wollte nicht wirklich … Nein, mein Schatz, ich wollte …« Vor meinen Augen bricht er zusammen. Konkret und im übertragenen Sinn. Es ist ein schrecklicher Anblick, den ich voller Entsetzen beobachte.
    Harald ist ein großer Mann, eine Institution, ein gebildeter, toller Mann, und jetzt, als er auf dem Marmor-Küchenfußboden auf die Knie sinkt, kommt es mir vor, als erbebe eine ganze Stadt in ihren Grundfesten. Die Stadtmauern reißen auf, alle Gebäude stürzen ein, und das Wehgeschrei von Tausenden Bewohnern ballt sich in Haralds Geheul zusammen. Sein Rücken ist gekrümmt, mit seinen langen Fingern krallt er ins Leere, auf der Suche nach Halt.
    Der Anblick erinnert mich an den Harald, den ich vor acht Jahren kennengelernt habe und der fast schon aus meinem Gedächtnis verschwunden war. Der schöne, intelligente, liebe, aber zugleich völlig verwirrte, vereinsamte und misstrauische Mann, den ich aus seiner finsteren Scheune und seinen ebenso düsteren Gedanken reißen musste. Nur ist es jetzt noch schlimmer.
    Viel schlimmer.
    Damals verbarg er seinen Kummer und seine Frustration in seinem Inneren. Äußerlich war ihm kaum etwas anzumerken, die Zeichen der Depression waren subtil. Doch auch danach habe ich ihn nie richtig weinen sehen. Bei der Geburt seiner Töchter hat er feuchte Augen bekommen, und dann noch ein drittes Mal, als wir mit Fleur und Charlotte die Gräber seiner Eltern und Großeltern besucht haben.
    Doch jetzt sitzt derselbe Mann, dieser unerschütterliche Felsen mit seiner tiefen Bassstimme und seiner Größe von einem Meter zweiundneunzig schluchzend auf den Knien, das Gesicht in den Händen verborgen.
    Ich hocke mich neben ihn und nehme ihn in die Arme.
    Wie ein großes Kind schmiegt er sich an mich, sucht Wärme, legt den Kopf an meine Brust. »Ich will euch nicht verlieren«, flüstert er. »Ich will dieses Leben nicht aufgeben. Ich … Ich kann ohne dich nicht leben.«
    Ich spüre seine Lippen, die sich auf meiner Haut bewegen, streichele seine Haare. »Ganz ruhig«, sage ich und schaukele hin und her, vor und zurück, wiege diesen großen Mann in meinen Armen. »Ganz ruhig.«
    »Was soll ich denn jetzt tun?«, flüstert er, als er sich Minuten später aus meiner Umarmung löst.
    Ich presse die Lippen zusammen und blicke Harald lange in die Augen. Ich weiß nicht, was genau ich dort suche, was ich dort unverhofft zu finden glaube, aber mir begegnet eine derartige Leere, dass ich davor zurückschrecke.

49
    »Vielen Dank für Ihren Besuch, Mevrouw van Santfoort.«
    Ich nicke dem Bankangestellten – einem Twen mit Flachsbart und zu weit geschnittenem, grauem Anzug – zu, der mir hilfsbereit die Tür aufhält. Kunden, die den Tresorraum besuchen, sind offenbar kein täglich Brot für ihn. Halb rechne ich schon mit einer Verbeugung, aber da hat mir wohl meine Fantasie einen Streich gespielt.
    Die Strahlen der blassen Morgensonne erhellen die Straßen. Es ist noch zu früh für Einkaufspublikum. Über der Glasfront einer Imbissbude hockt eine Reihe von Tauben und guckt hinunter. Ein Stück weiter die Straße entlang wird rasselnd ein Metallrollladen hochgezogen.
    Mein Auto steht unten am Wasser. Ich öffne die Türverriegelung, stelle die Puma-Sporttasche neben mich auf den Beifahrersitz und blicke dann einen Augenblick lang geradeaus. Hole ein paar Mal tief Luft.
    Ich wünschte, ich wäre nicht so nervös, sondern könnte genauso kühl und ungerührt handeln wie heute Morgen, als ich Harald allein auf dem Küchenfußboden zurückließ, wie ein eingestürztes, dem Erdboden gleichgemachtes Dorf. Pompeji. Atlantis.
    Ich setze meine Sonnenbrille auf und hole das Marius-Handy aus meiner
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