Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
Vom Netzwerk:
Tasche. Ich schalte es ein, zum ersten Mal seit fast zwei Wochen. Meinem Gefühl nach könnten Monate vergangen sein.
    Keine Nachrichten. Keine verpassten Anrufe.
    Ich rufe die einzige Nummer an, die einprogrammiert ist.
    Nach viermal Klingeln wird der Anruf angenommen.
    Er meldet sich nicht. Ich höre nur seinen Atem.
    »Und, bist du schon in Uganda?«, frage ich.
    »Uganda …«, wiederholt er träge. Ich höre sein Lächeln. Das Rascheln von Bettwäsche, ein müdes Seufzen. Er liegt noch im Bett. »Was interessiert dich das eigentlich?«
    »Sehr. Wo bist du?«
    »Wo möchtest du, dass ich bin?«
    »Hauptsache, nicht zu weit weg.«
    »Du klingst aufgeregt.«
    »Könnte sein.« Ich schweige lange. Dann sage ich: »Ich muss dich sehen.«
    »Warum?«
    »Hast du jetzt schon vergessen, was du auf dem Boot zu mir gesagt hast?«
    Diesmal schweigt er. Ich lausche gespannt. Wieder raschelt Bettwäsche. Dann seine Stimme, noch schlaftrunken: »Nein … habe ich nicht. Ich habe nur noch nicht so bald mit dir gerechnet, Muschi.«
    »Wo bist du?«
    »In einem Hotel.«
    »Wo?«
    »Ich rufe dich gleich zurück.« Er beendet das Gespräch.
    Ich lege das Handy auf meinen Schoß und frage mich, warum mich sein Verhalten überhaupt noch überrascht, denn ich müsste inzwischen doch wissen, wie vorsichtig er ist. Und als Bombenleger in meiner Ehe hat er – aus seiner Sicht – noch mehr Grund, mir gegenüber so misstrauisch wie möglich zu sein.
    Ich lege die Hand auf die Sporttasche neben mir und fahre mit den Fingerspitzen über das raue Leinen. Folge den Nähten des Reißverschlusses.
    Soll ich hier in meinem Auto auf seinen Anruf warten? Soll ich ein Stück spazieren gehen? Oder soll ich losfahren?
    Aber wohin? Ich kann ihm nicht entgegenfahren, solange ich nicht weiß, wo er steckt. Er könnte ja auch im Ausland sein.
    Seufzend hole ich meine Handtasche hervor, klappe die Sonnenblende herunter und blicke in den beleuchteten Spiegel. Dann frische ich mein Augen-Make-up auf und ziehe die Lippen mit einem pastellfarbenen Lipgloss nach. Ich hole einige Haarnadeln aus meinem Make-up-Täschchen, stecke ein paar lose Strähnen fest und sprühe Haarspray darüber. Dann packe ich die Sachen wieder weg und sehe minutenlang einem Möwenschwarm zu, der knapp über die Wasseroberfläche saust. Von der Brücke aus wirft jemand Brot hinunter. Kein einziges Stück erreicht das Wasser.
    Gerade, als ich beschließe, irgendwo eine Tasse Kaffee trinken zu gehen, fängt das Handy auf meinem Schoß an zu summen.
    »Ich bin in Rotterdam«, sagt er kurz angebunden und nennt mir eine Adresse. Der Straßenname ist mir bekannt: Es ist eine belebte Durchgangsstraße in der Nähe meiner elterlichen Wohnung.
    »Gegen zwölf bin ich da«, sage ich.
    »Kommst du zu Fuß, oder was?«
    »Ich muss erst noch etwas abholen.«
    Er schweigt. Es scheint fast, als hielte er den Atem an.
    »Na schön … Bis gleich dann«, sage ich.
    Eine knappe Stunde später laufe ich durch ein verwahrlostes Waldstück, das ringsum von Wasser umgeben ist – Bächen, Seen und Sümpfen – und in nervtötender Hörweite einer stark befahrenen Autobahn und einer Eisenbahnlinie liegt. Das Dröhnen des Verkehrs übertönt das Zwitschern und Singen der Vögel.
    Neben seiner Vorliebe für Filme war das Aalfischen das große Hobby meines Vaters. Eines, das obendrein Geld einbrachte, weil er seinen Fang an den Hintertüren von Restaurants in der Hafenstadt verkaufte. Natürlich fischte er ohne Angelschein und am liebsten hier, an einer Stelle, wo das Risiko, erwischt zu werden, sehr gering war und er ungestört seine Aalreusen auslegen und einholen konnte.
    Während der Schulferien nahm er mich gelegentlich mit. Später, als er nicht mehr lebte und ich ein eigenes Auto hatte, besuchte ich diesen Ort, wenn ich an ihn denken oder einer Weile dem Stadtdschungel entkommen wollte. Wenn ich für den Augenblick genug davon hatte, von Leuten umgeben zu sein. Stundenlang konnte ich hier umherstreifen und am Ufer sitzend summende Insekten und Wasservögel beobachten, ohne auch nur einen Menschen zu sehen.
    Naturliebhaber und Tagesausflügler kommen nämlich nicht hierher, sondern besuchen in Scharen den südöstlich von hier liegenden bekannten Nationalpark. Viel Wasser, ausgedehnte Wälder und Sumpfareale, die mit Weiden bewachsen sind und Bibern einen Lebensraum bieten – oder Ottern, so genau weiß ich es nicht mehr. In dieser Gegend sind unzählige Wanderwege ausgewiesen, es gibt Museen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher