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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu
Autoren: Esther Verhoef
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Erleichterung erfasst mich, als ich die graue Plastiktüte erkenne. Ich bücke mich, erwische einen Zipfel und ziehe die Tüte heraus. Dann das zweite Päckchen. Meine Hände zittern unkontrolliert.
    Marius sieht mich an, mit verschränkten Armen. Er kann nicht erkennen, was ich tue. Von seinem Standort aus kann er nur meinen Kopf und meine Schultern sehen.
    »Beeil dich doch mal, Muschi.«
    Weitermachen. Nicht zweifeln.
    Ich ziehe die Plastiktüte von der Pistole herunter und nehme sie in meine bebenden Hände. Stecke sie dann in die Tasche. Meine Jacke hängt sofort schief herunter, weil die Waffe viel zu schwer und zu groß ist für den dünnen Stoff.
    Steifbeinig trete ich einen Schritt zur Seite, weg von der Weide, und werfe Marius die Puma-Tasche zu.
    Er sieht sie an. Grinst von einem Ohr zum anderen. Seine Augen leuchten. »Ich wusste es! Ich kenne dich. Verdammt noch mal. Blöde Kuh. Du hast die ganze Zeit …«
    Plötzlich macht er sich keine Sorgen mehr darüber, dass seine Kleidung schmutzig werden könnte. Er fällt auf die Knie und zieht ungeduldig den Reißverschluss auf. Mit beiden Händen durchwühlt er die Tasche, durchsucht alle Fächer, findet aber nichts außer ein paar alten Zeitungen und Prospekten, meinen neuen wattierten Mantel und den Strickhut. Keine britischen Pfund. Keine amerikanischen Dollars.
    Dann steht er auf. Mit erregtem Blick. Schwarze Erde klebt an den Knien seiner Hose. »Leer! Was soll das?«
    »Du hast dich für das Geld entschieden«, sage ich matt.
    »Ich habe mich für mich selbst entschieden.« Er runzelt verärgert die Stirn. »So, und wo hast du die Kohle? Kommen etwa noch mehr Spielchen? Langsam reicht’s mir!«
    Ich ziehe die Pistole aus der Tasche. Jetzt höre ich nur noch das Dröhnen der Autobahn. Unzählige Autoreifen, die über den Asphalt rasen, dann ein zweiter Güterzug, Eisen auf Eisen. Oder ist es das Blut in meinen Adern?
    »Mir auch!«, antworte ich. Ich bezweifle zwar, dass er mich versteht, aber das ist mir jetzt auch egal. »Ich muss mich auch für mich selbst entscheiden.«
    Dann drücke ich ab.
    Ich erschrecke vor dem Knall, der mich betäubt, und vor dem unerwartet harten Rückschlag, durch den mir beinahe die Waffe aus der Hand gerissen wird.
    Auf dem weißen Leinenhemd breitet sich in seiner Magengegend ein dunkelroter Fleck aus. Marius fällt auf die Knie und legt die Hände über die Wunde, mit gekrümmten Fingern. Er blickt hinunter auf seinen Bauch, seine Hände, das viele Blut. Dann blickt er zu mir auf. Dann wieder zurück, erstaunt, zittrig, ungläubig. Es sieht es. Er fühlt es. Er weiß es. Aber er glaubt es nicht. Er muss denken, dass er träumt, einen Albtraum der schlimmsten Sorte.
    Sogar mir fällt es schwer, die Realität zu erfassen.
    Langsam gehe ich rückwärts. Die Pistole liegt schwer und warm in meinen Händen. In meinen Ohren rauscht und fiept es, ich atme schwer.
    Auf seinem Gesicht spiegeln sich Verwirrung und Schmerz wider. Ich blicke in seine Augen, die offenbar nicht mehr fokussieren können und mit denen er mich die ganze Zeit sucht, Augen, aus denen beängstigend schnell das Leben schwindet.
    Am liebsten würde ich mich verkriechen, mich in der Höhlung der Weide verstecken, mit angezogenen Knien und über den Kopf geschlagenen Armen. Ich würde mich am liebsten mit der starken Rinde umgeben, schützenden Wänden aus zähem Holz, wie ich es vor fünfundzwanzig Jahren getan habe, als ich hier spielte, dass ich von Räubern verfolgt würde.
    Aber ich passe nicht mehr in die Höhlung.
    Schon längst nicht mehr.
    Als sich seine Augen nach einem letzten, starren Moment des Unglaubens, des Entsetzens und der Bestürzung verdrehen, weiß ich, dass ich diesen Anblick niemals mehr vergessen werde, dass ich ihn für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen werde.
    Erst, als er sich minutenlang nicht mehr bewegt hat, gehe ich auf ihn zu. Ich knie mich neben ihn, streichele seine Wange, die noch warm ist, aber blutleer und fahl, sein Kinn, seine Augenbrauen. Seine Lippen. Graublau jetzt. Ich beuge mich nach vorn, über ihn, und drücke einen Kuss auf die Stirn des Mannes, den ich so sehr geliebt habe. »Ich musste es tun«, flüstere ich. »Ich konnte nicht anders. Das verstehst du doch?«
    Ich wünschte, ich könnte weinen.
    Mit der Waffe in der Jackentasche und der Sporttasche in der Hand kehre ich zum Weg zurück. Eine Viertelstunde später erreiche ich das Auto. Ich stopfe meine verschmutzten Kleider in die Tasche, ziehe
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