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Die Nebelkinder

Die Nebelkinder

Titel: Die Nebelkinder
Autoren: Joerg Kastner
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    1.
    Die Nacht brachte Finsternis und mit ihr Nebel und mit ihm das Grauen über das Land am Mondsee. Zu Sankt Gereon im Jahre des Herrn 890 hatte die Sonne geschienen, aber sobald ihre Kraft nachließ, kündigte sich eine bitterkalte Nacht an. Rötlich glühend versank die Sonnenscheibe hinter den bewaldeten Höhenzügen im Westen, der graublauen Sichel des Sees entstiegen diesige Schwaden. Anfangs dünn, tastend und zitternd, dann aber rasch fester und stärker werdend, reckten sich die Nebelfinger in den blauschwarzen Dämmerhimmel. Als sie mit den dicht aufziehenden Wolken verschmolzen, wurde das Land am Fuß des mächtigen Schafbergs ganz von Dunkelheit und Nebel beherrscht.
    Es war eine jener Nächte, in der die Nebelkinder aus den Erdspalten und Felsritzen stiegen, um die Höfe und Häuser der Menschen heimzusuchen. Die Wesen aus der Schattenwelt vergifteten die Brunnen, verdarben die Vorräte, schlachteten das Vieh und raubten die Neugeborenen. So raunte man es sich hinter vorgehaltener Hand zu. Die Menschen am Rande der Berge kannten diese Nächte und fürchteten sie wie das Jüngste Gericht. Bevor der letzte Sonnenstrahl erlosch, verrammelten sie Türen und Fenster, verriegelten die Ställe und deckten die Brunnen zu. Alle Eingänge wurden mit kreuzweise eingesteckten Eibenzweigen geschützt, was den Dämonen nach altem Glauben den Zutritt verwehrte. Beim flackernden Licht des offenen Herdfeuers saßen Männer, Frauen und Kinder beisammen und beteten zu Gott dem Allmächtigen um Schutz vor den Nebelkindern. In der Benediktinerabtei von Mondsee, deren feste Mauern und Türme am Nordufer des großen Gewässers emporragten, war alles anders. Licht und Gelächter drangen in die Nacht. Der Nebel, der wie ein riesiger Drache vor dem Kloster lauerte, hatte Mühe, mit seinem gierigen feuchten Maul jeden Lichtschein ·und jede laute Stimme zu verschlucken.
    Während der vergangenen Tage hatten die Feld- und Waldarbeiter auf den wenigen unbefestigten Wegen mehrere große Reisegruppen gesichtet, die hinter dem Hauptportal des Klosters verschwanden. Edle Herren auf prachtvollen Rossen oder in quietschenden, schaukelnden Wagen, begleitet von Bewaffneten, Dienern und Packeseln. Die Neugier erwachte bei Mann und Frau, doch vergeblich rätselte man über den ungewöhnlichen Zustrom an hoch gestellten Fremden. Eisern beachteten die Mönche die neunte Stufe der Demut, die ihr Ordensstifter Benedikt von Nursia ihnen auferlegt hatte - das Schweigen. Nur so viel war gewiss: Der Mondsee war der Ort einer höchst bedeutsamen und ebenso geheimen Zusammenkunft. Die Dörfler und Bauern, die ängstlich in ihren verräucherten Stuben hockten, wussten nicht, dass heute mit Graf Chlodomer der letzte der wichtigen Gesandten eingetroffen war. Aus diesem Anlass fand im lang gestreckten Refektorium des Klosters ein großer Festschmaus statt. Mit lauter Musik, die nach allem anderen klang als nach dem feierlichen Choralgesang der Mönche. Mit so vielen Speisen, dass sich die Tischplatten bogen. Und mit den besten Weinen, die der Klosterkeller aufzubieten hatte: Rheinwein, gewürztem Burgunder, Aniswein, Apfelmost und reichlich süßem Met. Dazu gab es frisches Bier aus der klostereigenen Brauerei.
    Zu den Aufträgern, die emsig zwischen Küche, Backstube, Brauerei, Weinkeller und Speisesaal hin und her liefen, gehörte ein schlanker Jüngling, der für seine fünfzehn Jahre recht klein geraten war. Er maß weniger als fünf Fuß und schien auch nicht mehr zu wachsen. »Albin der Kleine« wurde er deshalb von den anderen gehänselt. Auch »Albin der Zwerg«. Oder, wegen seiner etwas dunkleren Hautfarbe, »Albin der Finstere«, wenn sie ihn nicht gerade »Albin den Findling« nannten, was am häufigsten vorkam.
    An diesem Abend aber blieb den Knechten und Mägden im Kloster nicht viel Zeit zum Spott. Zu groß war die Gästeschar, die sie bedienen mussten. Abt Manegold hatte sich strikt geweigert, Leute aus dem Dorf zur Verstärkung der Bediensteten in die Abtei zu holen. Das Geheimnis der Zusammenkunft sollte nicht nach draußen dringen. Allen Menschen im Kloster, ob Mönch oder Knecht, hatte Wenrich, der Vogt dieses Landstriches, stren g stes Stillschweigen befohlen. Wer dagegen verstieß, machte sich des Hochverrats schuldig, und darauf stand der Tod.
    Doch der Nebel schreckte weder vor Mauern noch vor Geheimnissen zurück. Längst hatte er seine milchigen Finger nach der Abtei ausgestreckt und mit dem Nebel kam der
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